Wandern zwischen den Welten....

03.09.05

Warum wir noch in Lateinamerika tätig sind....


Vor ein paar Tagen schrieb mein Chef mir eine Mail. Warum wir noch in Lateinamerika tätig sind, fragte er. Er brauche Argumente für den Beirat, das maßgebliche Entscheidungsgremium von Misereor, dem Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Die Bischöfe, die dieses Gremium bilden, sind nämlich gar nicht mehr so überzeugt, dass Peru, das Land, in dem ich seit 4 Monaten arbeite, noch unsere Unterstützung braucht. Überhaupt, der ganze lateinamerikanische Kontinent ist doch eigentlich gar nicht so arm. Verglichen mit Afrika oder einigen Ländern in Asien... und außerdem wird doch auch die Armut in Deutschland immer größer – da braucht man schon gute Argumente....

Die Frage fand ich just an dem Tag in meiner Mailbox, als ich gerade von einem zweitätigen Trip mit Projektpartnern „auf’s Land“ zurückkam, sprich: von der alten Inka-Hauptstadt Cuzco aus in vierstündiger Fahrt in die Höhen der Anden, hinauf auf über 4200 m über dem Meer.

Zunächst geht die Fahrt noch durch ein malerisches Tal, mit grünen Feldern und einem blau sich schlängelnden Fluss, vorbei an alten Inka-Ruinen, bis zu der Stadt Sicuani. Dort biegen wir von der geteerten Hauptstraße ab auf eine unbefestigte Piste. Hinauf geht es jetzt, Richtung Altiplano, vorbei an kleinen landwirtschaftlichen Parzellen, doch je höher wir kommen, um so karger wird die Landschaft. Nach ca. einer Stunde Fahrt bleiben wir an eine Baustelle stecken. Ein uralter, verrosteter Bagger räumt die Piste von Geröll frei, das von den Hängen herabgestürzt ist. Wir warten geduldig, bis der Weg frei ist. Vor uns ein Bus, der uns dann für die nächste halbe Stunde in eine rotbraune Wolke aus Sand und Staub hüllt. Immer höher fahren wir hinauf, holpern durch Schlaglöcher über die staubige Piste, immer trockener und nüchterner wird die Landschaft. Hier oben wächst kein Baum mehr, kein Strauch, nur noch Grasbüschel in hellem grün, die vereinzelt aus dem Boden ragen. In einigen Monaten, wenn die Regenzeit noch weiter zurück liegt, werden hier nur noch ein paar verbrannte Grasstengel zu sehen sein. Nach zweieinhalb Stunden haben wir uns hinaufgearbeitet auf eine weite Hochebene – wir dürften nun auf gut 4000 m über dem Meer sein. Immer noch sind in der Ferne weit höhere Berge zu sehen – doch wir befinden uns auf einem Plateau, das den Blick freigibt, die weißen Wolken ziehen tief über unseren Köpfen weg und ich fühle mich fast wie im Himmel.

Was für eine faszinierende Landschaft!! Faszinierend in ihrer Nüchternheit, in ihrer Grenzenlosigkeit, in ihrer Weite. Wir kommen an einer Lagune vorbei, strahlend blaues Wasser, ein paar Dörfer am Ufer, vereinzelte Bauernhöfe – ein idyllischer Anblick, und die Ruhe hier oben ist so grenzenlos wie die Landschaft. Wir fahren weiter bis zur Hauptstadt der Provinz – „El Descanso“, ein Ort, an dem früher die Viehhändler auf dem Weg nach Sicuani übernachtet haben, daher der wohlklingende Name „Ort der Rast“.

Hier haben die Leute von „Kausay“ ihr Büro und Domizil. Kausay - das ist eine kleine Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Bauern hier auf den Höhen der Anden ihr Dasein zu erleichtern. Man könnte die Organisation als landwirtschaftlichen Beratungsdienst bezeichnen. Sie beraten die Bauern dabei, kleine Wasserrückhaltebecken zu bauen, damit sie die Monate, in denen kein Regen fällt, besser überstehen. Sie heben mit den Bauern Wasserkanäle zur Bewässerung der Felder aus, zeigen ihnen, wie man aus dem Dung der Kühe, Schafe und Lamas Dünger herstellt, legen Silos an zur Konservierung des Grases für die graslosen Monate, sind Streitschlichter, wenn wieder einmal mehrere Campesinos sich um den Zugang zu einer Wasserquelle streiten.

Es ist eine kleine Organisation – 10 landwirtschaftliche Berater und 3 Beraterinnen, die drei von vier Wochen eines Monats hier oben hausen, mit den Bauernfrauen Gesundheitsaufklärung betreiben, Kurse in der Verarbeitung von Lebensmitteln durchführen, mit Frauen über Familienplanung sprechen und andere nützliche Ratschläge geben. Diese kleine Organisation erhält Geld von Misereor – und deshalb bin ich hier. Weil ich mir direkt vor Ort ein Bild von „unserern“ Projekten machen will, die Arbeit unserer Projektpartner mit eigenen Augen sehen will.

Ich werde herzlich begrüßt von dem Team. Die Köchin macht mir einen Mate, einen Tee aus Coca-Blättern, der gut tut, nicht nur gegen die Höhenkrankheit, sondern auch gegen die beißende Kälte hier oben. Nachdem ich meinen Rucksack abgelegt habe, fahren wir los. Raus, zu den Bauern, der „Zielgruppe“ des Projekts, wie es im Entwicklungsjargon so schön heßt.

Als erstes besuchen wir Angelina, eine Bäuerin, die zusammen mit den Beratern von Kausay ein kleines Wasserrückhaltebecken auf ihrem Grundstück gebaut hat. Hier sammelt sie das Wasser aus einer spärlich vor sich hintröpfelnden Quelle auf und über ein einfaches Rohrleitungssystem und einen Wassersprenger kann sie so ein kleines Feld unterhalb des Reservoirs beregnen. Auf dem Feld baut sie einfach nur Gras an, dunkelgrünes, nahrhaftes Gras für ihre 5 Kühe, die etwa 10 Schafe und ein paar Meerschweinchen. Das Gras wird dann in einem einfachen Erdsilo konserviert – auch das haben ihr die Berater von Kausay gezeigt. So hat sie nun also Futter für die folgenden Monate, August, September und Oktober, wenn das kärgliche Gras, das hier oben wächst, völlig vertrocknet ist und die Tiere nur noch von den Reserven leben können.

Mit Hilfe von „Kausay“ hat Angelina auch ihren Herd in der Küche verbessert – von der einfachen Tonhütte führt nun ein Ofenrohr nach draußen, so dass die Hütte nicht mehr verrußt und verqualmt, wenn sie auf dem einfachen Tonherd ihre Mahlzeiten bereitet. Neben dem Herd kleine Ställe, in denen sie Meerschweinchen züchtet. Meerschweinchen sind eine gute Alternative zu den großen Tieren – sie brauchen nicht viel und ihr Fleisch ist äußerst nährstoffreich. Nur die Kälte vertragen sie nicht, deshalb stehen die Ställe auch hier in der Küche, neben dem Herd.

Angelina hat fünf Kinder, die mit ihr in dem kleinen Gehöft wohnen. Ihr Mann ist seit mehreren Tagen in Sicuani, um dort seine Arbeitskraft zu verkaufen. Dies ist die einzige Möglichkeit, zu etwas Geld zu kommen. Denn mit der Landwirtschaft läßt sich nichts verdienen, die reicht ja kaum zur Selbstversorgung. Und Geld brauchen sie dringend, wollen sie doch unbedingt noch ein weiteres Wasserbecken bauen, damit sie mehr Gras anbauen können, und auch ein paar Kartoffeln, Kräuter und Gemüse zur Aufbesserung der eigenen Mahlzeiten. Das Wasserrückhaltebecken braucht eine Auskleidung aus Plastikfolie, sonst versickert das Wasser zu schnell im Boden. Und die Plastikfolie ist teuer – über 100 Soles, das sind fast 30 Dollar pro Wasserrück-haltebecken. Außerdem brauchen sie Geld für den Schlauch und den zusätzlichen Wassersprenger. Kausay unterstützt sie zwar bei der Umsetzung des Projekts, berät sie technisch und gbit auch einen kleinen finaziellen Zuschuss für die Anschaffung der Gerätschaften. Doch den großen Teil der Investitionen muss Angelina mit ihrer Familie selbst tragen. Das ist ein Grundprinzip von Kausay: keine Schenkungen. Der Eigenbeitrag der Campesinos ist wichtig. Nur so lernen die Bauern, die Investitionen auch wertzuschätzen. Nur so ist gewährleistet, dass sie sich auch für die Wartung verantwortlich fühlen, ihr kleines Bewässerungssystem hüten wie einen Augapfel.

Angelina freut sich über unseren Besuch. Stolz zeigt sie mir ihren Herd, ihr Silo, und ihren Wassersprenger, die Meerschweinchen und die getrockneten Kuhfladen, die als Brennstoff dienen. Sie ist dankbar für die Unterstützung von Kausay, und sie hat große Pläne für die Zukunft. Sie lacht und ihre Augen leuchten in dem faltigen, wettergegerbten Gesicht.

Als nächstes fahren wir in ein Dorf, das in gemeinschaftlicher Anstrengung ein richtig großes Bewässerungssystem auf die Beine gestellt hat. Elf Familien haben zusammen gespart, gemeinschaftlich an der Zisterne gebaut, unter Anleitung von Kausay Hydranten installiert, ein Wasserverteilungssystem eingerichtet. Fünf Wassersprenger können nun eine Fläche von fast 2 Hektar beregnen. Und die Bauern sind stolz auf ihre Leistung. Ich komme genau im richtigen Moment – heute soll das Bewässerungssystem eingeweiht werden, und ich werde gleich zur Patin des Wasserhydranten Nummer drei ernannt, darf eine feierliche Taufe vollziehen – will heißen: eine Flasche Sekt mit dem Hammer über dem Hydranten zertrümmern. Es gibt feierliche Reden und die Bauern stimmen voller Stolz die peruanische Nationalhymne an. Ein ergreifender Moment.

Beim anschließenden Festmahl – es gibt Lammkeule, Kartoffeln und Quinoa, erzählen mir die Bauern, was sie auf dem gewonnenen Land alles anbauen wollen und wie sie hoffen, die bislang noch karge Fläche binnen eines Jahres in ein fruchtbares Paradies zu verwandeln. Alles nur mit ein paar einfachen Wassersprengern, wie sei bei uns in Deutschland jeder Kleingärtner in seinem Schuppen hat....

Wir haben noch mehrere Stationen vor uns an diesem Nachmittag und verabschieden uns händeschüttelnd und schulterklopfend von dem feucht-fröhlichen Fest. Den ganzen Tag werde ich von Wasserbecken zu Bewässserungskanal geführt, von Komposthaufen zu Grassilo, von Heuschober zu Biodüngerbehälter, von getrockneten Kuhfladen zu Gemüsebeet. Es ist ein beeindruckender Rundgang durch eine einfache Welt: alles was ich vom Dorfleben in Deutschland als Selbstverständlichkeit kenne, sind hier wichtige Errungenschaften, die das Leben der Bauernfamilien verbessern und ihnen kleine Fortschritte bescheren.

Bei Einbruch der Dunkelheit fahren wir zurück nach „El Descanso“. Jetzt, wo die Sonne verschwunden ist, fallen die Temperaturen auf minus 10 Grad und darunter. Mir ist kalt! Heizungen gibt es hier nicht, und beim Anblick der barfüßigen Kinder auf dem Dorfplatz schaudere ich und frage mich, wie sie das auch nur einen einzigen Tag überleben....

Nach einer warmen Suppe zum Abendbrot und meinen zahlreichen Fragen an die Kollegen von Kausay, die in meiner Hochachtung angesichts dieser beißenden Kälte noch mehr steigen, ziehe ich mich in meine Schlafstatt zurück: ein einfaches Zimmer mit Zementboden und zwei schlichten Betten. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Schrank, kein Licht. Das quietschende Metallbett ist viel zu kurz für mich, und außerdem hängt es durch wie eine Hängematte. Unter dem Bett ein Nachttopf – das Plumpsklo ist auf der anderen Seite des Hofes und bei dieser Kälte und Dunkelheit schlicht und einfach in unerreichbarer Entfernung. Ich verfluche mich, dass ich meinen Daunenschlafsack in Lima gelassen habe und bereite beim funzeligen Licht meiner winzigen Taschenlampe (gelobt seien die Freunde in Deutschland, die mir so ein praktisches Geschenk zum Abschied bereitet haben!) mein Nachtlager. Schlotternd vor Kälte und mit klammen Händen ziehe ich mir alles über, was ich in meinem Rucksack finde: drei T-Shirts, darüber die Fleecejacke, mein Anorak dient als Kopfkissen. Ich schlinge mir einen Schal um den Kopf und ein Wolltuch um den Hals, stülpe mir drei paar Socken über die Füße und die Handschuhe einer lieben Kollegin von Kausay über die Hände. Dann krieche ich in’s Bett, unter die 4 Wolldecken, die schwer sind und alles andere als kuschelig. Würde das Bett nicht ohnehin so durchhängen, dass ein Umdrehen eigentlich unmöglich ist, dann würde spätestens die Last der 4 Decken es verhindern, dass ich mich von einer Seite auf die andere drehe.

Nach zwei Stunden und immer noch eiskalten Füßen krieche ich entnervt aus meiner Mulde und lade mir drei weitere Decken von dem zweiten Bett in meinem Zimmer auf die ohnehin schon schwere Last. Lieber erdrückt als erfroren!!! In dieser Nacht schlafe ich kaum, liege wach mit meinen kalten Füßen und der kalten Nase, und habe genug Zeit, über die Ungerechtigkeiten der Welt nachzudenken. In Lima habe ich eine Wohnung mit drei Zimmern, mit einem riesigen Bett, mit Daunendecken, mit Strom und heißem Wasser, mit allem Luxus eines modernen Lebens. Und die Leute hier? Ich weiß nicht, wie sie hier überleben, in dieser Kargheit, in dieser Kälte, in ihren schlichten Lehmhütten mit den Grasdächern. Ob sie nachts auch frierend unter ihren Decken liegen und über die Ungerechtigkeit der Welt nachdenken? Oder ist das auch nur wieder so ein Luxus, den ich mir eben leisten kann – mit meiner guten Bildung, mit meinem kritischen Geist, mit meiner Weltbereistheit?

Als ich 24 Stunden später zurück in Cuzco bin, in meinem ebenfalls unbeheizten, aber dennoch sehr gemütlich anmutenden Hotel, und als ich schließlich nach einer ausgiebigen, heißen Dusche nochmal ins Internetcafe nebenan gehe, um meine Mails zu lesen, finde ich die Mail meines Chefs, mit seiner seltsamen Frage: ob ich ihm nicht Argumente liefern könne, warum wir noch in Lateinamerika tätig sind? Nein, tut mri leid, dazu fällt mir leider gar nichts ein. Da kann ich nur traurig mit dem Kopf schütteln. Was für eine Frage....!!

(geschrieben im Juni 2005)

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