Der Mann an der Tür
Der Mann an der Tür ist klein (er reicht mir gerade mal bis zur Schulter), ein wenig untersetzt, grauhaarig, vielleicht 50, vielleicht 60, ich kann es schwer einschätzen. Er trägt immer den gleichen braunen Pullover, die gleichen braunen Hosen, manchmal – an diesen kalten, grauen Nebeltagen, die seit Wochen über Lima hängen – unter dem braunen noch einen grauen Rollkragenpullover. Er ist immer freundlich – „buenos días, señorita“, „cómo está, señorita?“. Er beendet jeden Satz mit „señorita“ – was bei mir eine ganze Reihe seltsamer Gefühle auslöst, von Scham über Verlegenheit bis dahin, dass ich mich gleich mindestens zehn Jahre jünger fühle. Er öffnet mir die Tür, er hilft mir mit den Einkaufstüten, die ich inzwischen oft genug in meinen Rucksack stopfe, damit er nicht sieht, dass ich schon wieder etwas gekauft habe, Geld ausgegeben habe, er muss ja denken, dass ich im Geld schwimme, und letztlich hat er damit irgendwie – zuminest aus seiner Sicht - auch gar nicht so unrecht. Es ist mir peinlich, dass ich ständig neue Dinge kaufe – für meine Wohnung, für den Haushalt, für mich, Dinge, die ich brauche, und von denen er mir sicher zustimmen würde, dass ich sie brauche, die er aber genauso sicher nicht in seinem eigenen Haushalt hat, weil er sie sich nicht leisten kann. Ich sehe ihn jeden Tag, wenn ich aus dem Haus gehe – seine Schicht beginnt morgens um sieben und endet abends um sieben, dann wird er von einem anderen Mann mit braunen Pullover abgelöst, jünger dieser, und weniger unterwürfig, deshalb für mich auch nicht mit so vielen zwiespältigen Gefühlen behaftet.Ich weiß nicht einmal wie er heißt, der kleine untersetzte Mann mit dem braunen Pullover, aber er weiß viel über mich: wann ich aus dem Haus gehe, wann ich zurückkomme, wann ich einkaufe, wann ich auf Reisen gehe, wann ich wie Besuch habe, wann ich den ganzen Tag alleine zu Hause bin, wann ich in’s Büro gehe, wie lange ich arbeite, er kennt meine Freunde und meine Gewohnheiten, weiß, wann ich morgens zum Joggen oder Schwimmen gehe und wie fit ich am jeweiligen Tag bin. Er weiß so viel über mich, und doch behandelt er mich nach fast 8 Monaten nicht anders als bei unserer ersten Begegnung: „Buenos días, señorita“, „Cómo está, señorita?“. Er ist ein treuer Diener, stets freundlich, aufmerksam „lassen Sie mich das tragen, señorita!“ und behandelt mich wie eine Prinzessin, schleppt für mich, öffnet die Tür, ruft den Aufzug, lächelt zurückhaltend. Stets zu Diensten. Der Mann mit dem braunen Pullover – ich frage mich oft, wie und wo er selbst wohl lebt? Ob er verheiratet ist? Kinder hat? Was er wohl über mich denkt? Und welches Bild er sich von mir macht, wenn meine Möbel geliefert werden, wenn ich meine Einkaufstüten nach Hause trage, wenn meine Freunde zu Besuch kommen? Er weiß, was ich an Miete bezahle (ungefähr das Acht- bis Zehnfache von dem, was er pro Monat verdient...) und ich fühle mich schlecht und ich schäme mich und verstecke weiter meine Tüten vor ihm in meinem Rucksack. Heute habe ich ihm einen Kuchen vom Bäcker mitgebracht, weil doch peruanischer Unabhängigkeitstag ist. Unabhängig? Wer ist hier unabhängig? Und von wem? Und warum habe dann also ICH frei, während der Mann im braunen Pullover unten sitzt, in seinem Kabäuschen neben dem Eingang, von sieben bis sieben, und das Haus bewacht, uns Reiche beschützt vor den bösen Armen, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen als in die Häuser derer einzubrechen, die all das haben, was sie auch gerne haben wollen. In erster Linie: Unabhängigkeit....