Wandern zwischen den Welten....

09.03.06

Lomas de Carabayllo - oder: vom Leben auf der Müllkippe

Eine Fahrt in die euphemistisch „Junge Dörfer“ genannten Slums von Lima hat mich noch jedes Mal aus der Bahn geworfen. Nicht nur, weil der Gegensatz zwischen dem reichen Stadtteil Miraflores, wo ich selbst wohne, und den Stadtrandbezirken so krass ist, nicht nur, weil der triste, graue Wüstenstaub jeglichen Versuch von Schöndenkerei schlicht unmöglich macht, sondern auch und vor allem, weil es ich noch nie geschafft habe, mich den menschlichen Schicksalen dort zu entziehen. Man fährt da raus und begegnet unweigerlich der gnadenlosen Realität dieses Landes, vor der man sich in den reichen Stadtvierteln Limas so gut verstecken kann. Man fährt da raus und fragt sich unweigerlich: „Was zum Teufel treibt die Menschen dazu, sich in dieser absolut lebensfeindlichen Umgebung niederzulassen? Wie kann sich ein Mensch so etwas freiwillig antun? Wie schlimm muss es diesen Menschen dort, wo sie vorher gelebt haben, ergangen sein, dass dies die bessere Alternative ist? Wie verzweifelt muss man sein, dass man hierhin zieht und hofft, dies möge der Anfang eines besseren Lebens sein?“

An diesem Samstag Nachmittag fahren wir mit der Partnerorganisation von Misereor, CIDAP, nach Lomas de Carabayllo, ein Slum, etwa 30 km vom Zentrum Limas entfernt, im Norden der Stadt. Das Stadtviertel ist in erster Linie eine Müllkippe und erst in zweiter Linie ein Wohnviertel. Die Menschen leben auf dem Müll, mit dem Müll, neben dem Müll und – nicht zuletzt – vom Müll. Viele Menschen hier sind Müllsammler, Müllsortierer, Müllverwerter, Müllverarbeiter und Müllverbrenner.

Die Müllkippe wurde vor 30 Jahren angelegt und wird auch heute nach wie vor mit städtischem Müll beliefert. Ein Teil des Mülls kommt aus den reichen Stadtvierteln (wie z.B. Miraflores, wo ich selbst wohne...), wo er mit modernen Müllautos eingesammelt wird und so den Bewohnern dieser Stadtviertel das wohltuende Gefühl suggeriert, dass es für die Müllentsorgung ein von der Stadtverwaltung erdachtes System gibt, auf das man sich verlassen kann.... Ein weiterer großer Teil des Mülls kommt heute aus den großen Krankenhäusern der Stadt – Spritzen, Schläuche, Kanülen, Verbandsmaterial, leere oder auch nicht ganz leere Arzneischachteln, Chemikalien, Operationsmaterial, Desinfektionssprays... die ganze Palette moderner Krankenhauspraxis . Der gesamte Müll wird da draußen in Lomas de Carabayllo abgekippt und dann beginnen die Müllsortierer ihre Arbeit – wühlen sich durch Säcke, Tüten und Müllhaufen, auf der Suche nach verwertbarem und verkaufbarem Material. Was keine Verwertung mehr findet, bleibt liegen. 10 Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre und mehr – so wie hier schon über 30 Jahre alter Müll zwischen den Häusern und Straßen vor sich hingammelt.

Eine Müllverbrennungsanlage gibt es natürlich nicht. Auch keine Absperrung, die kleine, spielende Kinder vom Müll fernhalten könnte. Man lebt hier nicht nur mit dem Müll, sondern im wahrsten Sinne des Wortes mitten im Müll.

Einige Kleinstunternehmen haben sich auf das „Recycling“ von Autobatterien spezialisiert: in einer großen Stahltonne werden die Autobatterien angezündet und auf diese Weise das Blei in der Batterie verflüssigt und „recycelt“. Ein schönes Wort, das einen gesunden, systemischen Kreislauf suggeriert, von dem hier in keinster Weise die Rede sein kann.

Die bei diesem Prozess entstehenden Abgase liegen nachts bleischwer über dem Viertel – tagsüber wird inzwischen nicht mehr ausgebrannt, weil die Bewohner des Viertels sich über die schwarzen Rauchwolken beschweren, über die Abgase, die in den Augen brennen und Husten und Atembeschwerden verursachen.

Nachts aber, wenn keiner die schwarzen Rauchwolken sehen kann, läuft das Geschäft auf Hochtouren. Wir fragen bei den Bewohnern nach und erfahren, dass die leeren Autobatterien von zwei Großhändlern an die Kleinstunternehmer verteilt werden. Die Batterien kommen aus Peru und den benachbarten Ländern Chile, Bolivien, Ecuador, Argentinien... Peru ist eines der wenigen Länder in Lateinamerika, in denen diese Praxis noch nicht per Gesetz verboten ist, in allen umliegenden Ländern gibt es für das Recycling von Autobatterien inzwischen strenge Umweltgesetze und der Import leerer Batterien ist gänzlich verboten. Nicht so allerdings der Export leerer Batterien nach Peru, so dass inzwischen in Peru das Geschäft boomt. Das gewonnene Blei holen die beiden Großhändler dann wieder bei den kleinen, informellen Unternehmen ab und verkaufen es weiter. Zum Beispiel an das us-amerikanische Unternehmen Doe Run Peru, das seinen ganz eigenen Umweltskandal hat und deshalb wegen dieser vernachlässigbaren Umweltsauerei bisher noch nicht in die Schlagzeilen kam. Die ausgebrannten Batteriegehäuse landen in der Landschaft und so begegnen uns in Lomas de Carabayllo zahlreiche Schuttberge mit solchen Batteriegehäusen.

Ein Nachbarjunge, der unser Gespräch mithört – Miguel – erzählt mir stolz, dass sein Papa zu Hause auch eine ganze Menge solcher Batterien habe – ob ich sie sehen wolle? Natürlich will ich sie sehen – und so führt mich Miguel also zu sich nach Hause. Der Vater beäugt mich mißtrauisch, erzählt dann aber freimütig, dass er selbst sich aus dem Geschäft des Batterierecyclings zurückgezogen habe – mit dem wachsenden Widerstand der Bevölkerung wurde ihm das Geschäft zu heiß und die jetzt noch vor seiner Hütte aufgestapelten Batterien seien einfach dem Umstand zu verdanken, dass er nicht am Stromnetz angeschlossen ist und deshalb seinen Fernseher mit Autobatterien betreibt. Für die leeren Batterien findet er ja dann in der unmittelbaren Nachbarschaft freudige Abnehmer...

Ein paar Häuser weiter wohnt Carmen mit ihrem Sohn Carlos Auf Initiative unserer Partnerorganisation CIDAP wurde eine Gesundheitsstudie in Lomas de Carabayllo durchgeführt, an der auch der kleine Carlos mitgewirkt hat. Das Ergebnis: Carlos hat Bleiwerte im Blut, die die von der WHO empfohlenen Höchstwerte drastisch übersteigen. Carmen macht sich Sorgen – auch wegen seines schlimmen Hautausschlags, der nicht weggehen will. Carlos ist fast drei Jahre alt, doch außer „Mama“ und „Papa“ kann er nichts sprechen. Dass andauernd hohe Bleibelastungen sich insbesondere bei Kindern auf die Intelligenz auswirken, ist allgemein bekannt.

Carmen zeigt uns ihr kleines Unternehmen – gemeinsam mit ihrem Mann produziert sie auf dem staubigen Wüstenboden Spülsteine, die sie dann verkauft. Vom Erlös kauft sie wieder Material, um weitere Spülsteine herstellen zu können. Das Unternehmen ist klein, der Umsatz auch, die Gewinne noch kleiner.

Während sie und ihr Mann arbeiten, spielt Carlos auf dem Boden, beäugt neugierig die diversen Gegenstände, die er am Wegesrand so vorfindet, entdeckt die Welt – wie alle kleinen Kinder – indem er sich auch schon mal was mit dem Mund erschmeckt.

Trotz aller Widrigkeiten hat Carmen große Träume – sie ist hierhergezogen, um ein blühendes Geschäft zu betreiben. Sie will vorankommen, für sich und ihre Familie eine rosigere Zukunft schaffen als sie hier im grauen Wüstenstaub vorstellbar ist. Dass es dorthin ein weiter, trockener, staubiger Weg ist, weiß sie so gut wie wir.

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