Wandern zwischen den Welten....

11.02.06

Manitos Unidas - ein Projekt gegen sexuellen Missbrauch von Kindern

Mein heutiger Projektbesuch führt mich zu einer Partnerorganisation, die sich den Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auf die Fahnen geschrieben hat. Laut offiziellen Statistiken führt Huancayo - eine lebendige, quirrlige, vom Handel lebende Stadt auf 3.200 Meter über dem Meer in den Zentralanden Perus – gleich hinter der Hauptstadt Lima die Statistiken des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in Peru an. Was das heißt, werde ich im Laufe dieses Vormittags erfahren.

Die Projektkoordinatorin – Iris – kommt mir schon auf meinem Weg zu ihrem Büro entgegen. Es gäbe da „ein kleines Problem mit dem Büroschlüssel“ sagt sie, und führt mich kurzerhand erst mal ins nächste Café, wo wir einen Coca-Tee trinken und sie mir einen ersten Überblick über die Problematik verschafft: der sexuelle Missbrauch von Kindern ist in Huancayo (wie in ganz Peru) leider ein sehr weit verbreitetes Phänomen – und das nicht nur in armen und deshalb weniger gebildeten Bevölkerungsschichten, sondern quer durch alle Schichten hindurch.

Eine Studie, die das Projektteam an verschiedenen Schulen in Huancayo durchgeführt hat, zeigt, dass zwischen 80-95 % aller Schulkinder schon einmal Opfer sexueller Belästigung bis hin zum Missbrauch wurden. Opfer sind Jungen und Mädchen gleichermaßen, einige von ihnen wurden schon als Kleinkinder, im Alter von 2 oder 3 Jahren sexuell mißbraucht, einige über viele Jahre hinweg, bis ins Erwachsenenalter.

Die Täter sind in vielen Fällen Familienangehörige – Onkel, Väter, Stiefväter, Stiefbrüder – aber auch Nachbarn, Lehrer, Uniprofessoren, Polizisten und andere Vertreter öffentlicher Institutionen. Das Phänomen ist dermaßen weit verbreitet, dass es schon fast normal ist. Eine erschreckende Situation.

Die „Manitos Unidas“ – was soviel bedeutet wie „vereinte Kinderhände“ - haben ihre Arbeit vor 4 Jahren begonnen. Mein Kollege bei Misereor hatte einen „Handel“ mit Iris, der Projektleiterin und Initiatorin der ganzen Idee, geschlossen: wenn sie es schaffen würden, in einer selbstorganisierten Kampagne in Huancayo 1.000 USD zu sammeln, würde er ihren Projektantrag über 45.000 Euro bei Misereor vorlegen und sich für eine Unterstützung einsetzen. Iris akzeptierte – nicht ahnend, auf welche Herausforderung sie sich da eingelassen hatte. Die Hürde von 1.000 USD war gewaltig hoch und das Team stürzte von anfänglicher Euphorie alsbald in Panik, als die drei MitarbeiterInnen von Manitos Unidas sowie ein kleiner Stamm freiwilliger MitarbeiterInnen mit ihren nicht vorhandenen Kampagnenerfahrungen eine Aktion auf die Beine stellte, die meinen ganzen Respekt verdient. Mit der Hilfe von StudentInnen und Schulklassen wurden Milchdosen zu Spendenbüchsen verarbeitet, Plakate gemalt, Flyer und Plakakte gedruckt, private Unternehmen und Banken wurden um ihre Unterstützung und ihren Zuschuss gebeten – in Form von Geld, Druckkosten, Luftballons oder anderen Materialien. Die Stadtverwaltung gab ihre Zustimmung für die Kampagne, die Kirche unterstützte das Anliegen und aus vielen kleinen Beiträgen, gesammelt von vielen fleißigen Helfern, läpperten sich schließlich satte 4.700,- Soles zusammen, fast 1.600,- USD.

Mein Kollege bei Misereor hielt sein Versprechen, legte das Projekt den Gremien vor und es wurde bewilligt. Seit über 3 Jahren arbeitet das Team nun also mit einer breiteren Finanzierung und hat Beeindruckendes geleistet. Drei Pfeiler hat die Arbeit mit den Opfern von sexuellem Missbrauch inzwischen: Betreuung – in juristischer, legaler, medizinischer und psycholigscher Sicht. Vorbeugung in Form von Aufklärungskampagnen, Workshops und Fortbildungen für Kindergartenkinder, Schüler, Eltern, Lehrer, Polizisten, Richter und Behördenvertreter. Und als dritte Säule politische Einflussnahme, um Regierungsstellen und Behörden für das Problem zu sensibilisieren, ihre Unterstützung einzufordern und das Thema in Politik und Gesellschaft publik zu machen.

Es ist ein langer und mühsamer Weg, auf den die „Manitos Unidas“ sich da gemacht haben: die Justiz in Peru ist korrupt, wer Geld hat, wird seinen Kopf immer und mit Leichtigkeit durch einen kleinen Obulus an den Richter aus der Schlinge ziehen. Außerdem ist sexueller Missbrauch hier - wie in vielen anderen Gesellschaften auch - ein Tabuthema, über das man nicht spricht, nicht sprechen will, das am besten gehütete Geheimnis einer Familie. Öffentlichkeit ist nicht erwünscht, und bringt ein Mädchen trotzdem den Mut auf, ihren Vater oder ihren Onkel anzuzeigen, so wird von der Familie oft so lange und heftig Druck ausgeübt, bis es die Anzeige zurückzieht – die scheinbar „heile Familienwellt“ ist eben häufig wichtiger als die heile psychische Welt eines Kindes – auch wenn es sich um wahnsinnig viele Kinderseelen handelt, die mit dieser brutalen Realität konfrontiert sind.

Häufig sind die Täter gleichzeitig auch Opfer, waren selbst dem sexuellen Missbrauch ausgesetzt, ohne dass sie von irgend jemandem beschützt worden wären. Sie leben nur, was sie selbst am eigenen Leib erfahren haben. So wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der sich vervielfacht: denn, Statistiken belegen, dass die Täter sich nicht nur an einem, sondern in in der Regel an drei bis vier Opfern vergehen. Um so wichtiger ist es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, eine öffentliche Debatte dazu zu initiieren und den Opfern einen anderen Weg zu zeigen.

Richtig traurig werde ich, als Iris mir erzählt, dass sie schon mehrfach die Kündigung eingereicht hatte – zum Glück konnten ihre KollegInnen sie bisher immer wieder überreden zu bleiben. Iris ist Rechtsanwältin. Doch wenn sie heute ihren ehemaligen StudienkollegInnen begegnet und diese sie in ihrer Funktion als Richter um „einen kleinen Zuschuss“ bitten, damit sie ein Anliegen positiv bescheiden, wenn sie mit Polizisten zu tun hat, die als Gegenleistung für die Aufnahme einer Anzeige einen Computer verlangen oder wenn Anwälte von einem Tag auf den anderen ihre Meinung zu einem Fall ändern, weil sie offensichtlich mit einer kleinen Geldspritze eines „Besseren“ belehrt wurden, dann befällt sie ein solcher Ekel vor ihrem eigenen Berufsstand, vor der Gesellschaft, in der sie lebt, dass sie nicht mehr Teil davon sein will, dass sie am liebsten alles ausblenden und sich zurückziehen möchte in ihre eigene kleine, heile Familie, all diese widerwärtigen, in ihrer Vielzahl und Komplexität scheinbar unlösbaren Probleme aussperren, nichts mehr davon sehen, nichts mehr davon hören, einfach „ganz normal leben“ – wie alle anderen Wegblender und Weggucker auch.

Mißbrauchte Kinder und Jugendliche werden häufig angefeindet, bloßgestellt, diskriminiert. Auch die KollegInnen von „Manitos Unidas“ haben mit solchen Anfeindungen ständig zu kämpfen. Die Gesellschaft hat wenig Verständnis dafür, dass hier immer wieder jemand den Finger in eine offene Wunde legt. Täter wandern ins Gefängnis und werden so in den Augen der Gesellschaft häufig von Tätern zu Opfern.

Doch es gibt auch Zuspruch, Unterstützung und positive Erfahrungen. Der Mut wächst, und pro Jahr können mit Unterstützung von Misereor-Spendengeldern nun immerhin schon knapp 130 Fälle von sexuellem Missbrauch legal begleitet werden, kann psychologische und medizinische Hilfe geleistet werden. Weit mehr Menschen werden über die Radioprogramme, über die Aufklärungsmaßnahmen des Projekts und über Kampagnen erreicht. In einer der armen Vorstadtsiedlungen von Huancayo kann ich selbst erleben, wie kleine Jungen und Mädchen in einem Sommerferienprogramm über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden und wie sie sich davor schützen können.


Mißbrauchte Jungen und Mädchen, die das ca. sechsmonatige Betreuungsprogramm durchlaufen haben, bleiben weiter in den Selbsthilfegruppen, erhalten hier lebenspraktischen Rat und Betreuung, gründen kleine Spar- und Kreditprogramme, mit deren Hilfe sie ihrem Leben eine neue Richtung geben können.

Es werden leider nach wie vor viel zu wenige Kinder erreicht, viel zu wenige Fälle zur Anzeige gebracht, die Täter bestraft und die Kinder auf ihrem Heilungsweg unterstützt. Doch das Projekt entwickelt sich weiter, nutzt immer professionellere Techniken – das Projektteam arbeitet inzwischen mit einer Reihe von selbst produzierten Radio- und Fernsehspots, die auf das Thema aufmerksam machen.

Die Presse nimmt das Thema mit viel Interesse auf und das Unrechtsbewußtsein in der Bevölkerung wächst – zumindest in Huancayo hat inzwischen jeder schon mal gehört, dass sexueller Missbrauch ein Verbrechen ist, das zu schweren psychischen Störungen führt.

Mit Iris komme ich zu dem Schluss: es lohnt sich, diesen Weg weiterzugehen. Trotz oder gerade wegen all der Steine im Weg....

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