Wandern zwischen den Welten....

03.11.05

Todos los Santos - Allerheiligen

Erster November 2005 – Allerheiligen. Ich habe mit einem Freund ausgemacht, dass wir gemeinsam zu einem der größten Friedhöfe Limas fahren, in Villa Maria del Triunfo, einem der vielen armen Stadtteile Limas, in denen die ganze Schizophrenie dieser verrückten zu Tage tritt...

Der Friedhof ist riesengroß, hier sind ca. 30.000 Gräber - teils Mausoleen aus Beton und Kachelsteinen, teils schlichte Holzkreuze im staubigen Wüstenboden mit ein paar tristen Steinen, die die Fläche kennzeichnen, unter der der Tote begraben liegt. An Allerheiligen pilgern die Familienangehörigen zum Grab – teils kommen sie von weit her angereist, um den Toten zu besuchen, teils wohnen sie gleich um die Ecke.

Sie bringen Essen und Trinken mit, am Straßenrand und im Friedhof sind viele Stände, an denen man Blumensträuße kaufen kann, und wer kein Geld für echte Blumen hat, kann für 2 Soles ein Blumenbouquet aus Plastik kaufen. Dicke Frauen mit bunten Schürzen verkaufen die für diesen Tag typischen Wawas - Teigfiguren mit bunten Zuckerstreuseln, die den Toten als besondere Spezialität angeboten werden und die auch den Lebenden nicht schlecht munden. Andere verkaufen kleine Spielzeugwaren für die Gräber der Kinder, Wasser in Plastikbeuteln für die Blumensträuße, da ist ein Karussell und ein kleines Riesenrad, unzählige Essensstände säumen den Weg, auf dem Friedhof stehen schon die Blaskapellen bereit, die gegen ein kleines Entgelt eine typische Melodie aus der Heimatregion des Verstorbenen spielen. Es mischen sich schrille Trompetenklänge mit den sanften Tönen der andinen Harfe oder dem dumpfen Schlagen der Bongos. Es herrscht ein buntes Treiben auf dem Friedhof –mindestens 150.000 Menschen sind auf den Beinen, schieben sich in einem großen Strom in den Friedhof hinein, klettern zwischen den Gräbern herum oder sitzen auf den Gräbern ihrer Angehörigen, trinken, essen, unterhalten sich. Erzählen dem Toten, wer alles gekommen ist und wer heute leider aufgrund anderer Verpflichtungen verhindert ist – so als ob der Tote zwar hören, aber nicht sehen könnte....

Es wird gebetet, oder man läßt – ebenfalls gegen ein kleines Entgelt – beten und beauftragt dafür einen professionellen „Rezador“, einen Beter, der auch das eine oder andere lateinische Gebet zum Besten gibt, ein paar Lieder singt und dann zum nächsten Grab weiterzieht. Auf dem Friedhof riecht es nach gebratenem Hühnchen, nach Chicharron und Buñuelos, nach Staub und Bier und Zuckerwatte. Es ist eine wilde Mischung aus Volksfest und Trauermarsch, Rosenkranzgebet und Besäufnis, fröhlicher Ausgelassenheit und trauriger Melancholie. Hier und da hört man typische Klänge, traditionelle Lieder, gesungen von Leuten, die nicht gerade als begnadete Sänger bezeichnet werden können, die aber mit voller Inbrunst ihr Bestes geben. Man sieht immer wieder Menschen in andinen Trachten, die den Verstorbenen einen Scherentanz darbieten. Die Sonne scheint den ganzen Tag, was die grauen Hügel, auf denen sich der Friedhof erstreckt, in ein gnädiges Licht taucht.

Wir wandern zwischen den Gräbern umher und während für Daniel und mich der Friedhof und seine Menschen die Attraktion sind, werden wir zur Attraktion für die Menschen auf dem Friedhof. Eine Gringa – was tut die hier? Woher kommt sie? Was sucht sie hier? Immer wieder sprechen uns Leute an – ob wir einen Toten besuchen? Warum wir hier sind? Die Leute sind freundlich. Manche sind ganz offensichtlich schon leicht angetrunken, aber alle sind friedlich, ich habe keine Angst, wenngleich mich viele gewarnt hatten, nicht zu diesem Friedhof zu fahren, weil es gefährlich sei.

Eine Familie an einem Grab lädt uns ein, mit ihnen Bier zu trinken. Wir kommen ins Gespräch – die Mutter erzählt, dass der Verstorbene ihr Sohn ist, der vor zwei Jahren in einer Schlacht zwischen zwei Straßengangs ums Leben kam. Ermordert von ein paar Jugendlichen, in dem Stadtteil, der sich gleich an den Friedhof anschließt und ihn langsam völlig umschließt. Er war 21 Jahre alt. Die Mutter hat traurige Augen und doch erzählt sie all das, als ob es schon unendlich lange her wäre und mit dem Hier und Jetzt und Heute nicht viel zu tun hätte. Sie hat mit dem Mord an ihrem Sohn abgeschlossen, da ist kein Groll und keine Wut mehr, auch keine Resignation oder Depression. Einfach nur das Akzeptieren der harten Wahrheit. „Was will man da machen?“ ... fragt auch der Vater und zuckt bedauernd mit den Schultern. „Hier in Peru passieren seltsame Dinge. Früher war das nicht so. Früher musste man nicht um sein Leben fürchten. Aber seit ein paar Jahren passieren komische Sachen in Peru. Das Leben wird härter. Viel Gewalt. Viel Kriminalität. Viel Leid.“ Wir schauen betreten auf den Boden. Der Bruder gießt nochmal Bier in das Glas. „Salud“ – „Salud“. So ist das Leben eben. Was soll man da machen? Wir bedanken uns für die nette Einladung, machen zum Abschied ein Foto, auf dem alle fröhlich lachen, und ziehen weiter.

Als die Sonne untergeht, verwandelt sich der Friedhof in ein Meer aus Kerzen. Es sieht wunderschön aus. Friedlich ziehen die vielen Menschen in einem plaudernden, scherzenden, lachenden Strom Richtung Friedhofstor. Todos los Santos – Allerheiligen. Wie die Peruaner da auf den Gräbern ihrer Angehörigen sitzen, denke ich, dass dies ganz typisch für ihre Haltung zum Leben ist. Was will man machen – es ist wie es ist und man muss es leben, wie es ist. Man sitzt auf einem Grab, aber das Leben geht weiter. Besser, man denkt nicht zu viel über all das Traurige nach, trinkt noch einen Schluck Bier, erzählt einen Witz, lacht, freut sich so weit wie möglich des Lebens....

Labels: , , , , ,


 
Counter