Wandern zwischen den Welten....

02.12.06

Yaki, 23, Müllsammlerin

Lima, Freitag morgen, 4:30 Uhr. Mein Wecker klingelt und reißt mich aus dem Tiefschlaf. Schlaftrunken taste ich nach dem Lichtschalter - es ist stockdunkel, nur ein paar Vögel kündigen an, dass der Tag nicht mehr fern ist. „Was für eine bescheuerte Idee...“, denke ich, und schäle mich widerwillig aus dem warmen Bett. Nur schnell eine Katzenwäsche, anziehen, ein Becher Saft, Müsliriegel eingesteckt. Um 5 Uhr klingelt der Taxifahrer. Los geht’s in eine der größten Armensiedlungen Limas – nach San Juan de Lurigancho.

Dort treffe ich im frühen Morgengrauen Yaki. Sie erwartet mich in ihrer Arbeitskluft: dreckige Turnschuhe, eine alte Jogginghose, ein vor Dreck strotzendes T-Shirt, ein Handschuh, auf dem Kopf eine Mütze mit der Aufschrift „Vereinigung der Müllsortierer von San Juan de Lurigancho“. Über ihrer Schulter ein großer Plastiksack. Yaki ist 23 Jahre alt. Seit ihrem fünften Lebensjahr arbeitet sie als Müllsammlerin.

Wir treffen uns an einer großen Kreuzung. Sie weist die Straße hinauf: dieser Straßenzug ist ihrer. Alle kennen sie hier, viele der anderen Müllsortierer respektieren, dass die 15 Häuserblocks bis zur nächsten Kreuzung ihre Zone sind, in der sie den Müll auf verwertbares Material durchwühlt. Diesen Respekt hat sie sich über viele Jahre mühsam erkämpft. Trotzdem passiert es immer wieder, dass sich andere „Recicladores“, wie sie hier in Peru heißen, in ihr Gebiet schleichen und ihr den Müll vor der Nase wegschnappen. Die Konkurrenz ist groß...

Yaki erledigt ihre Arbeit konzentriert und schnell: geübt tastet sie die zugeknoteten Müllbeutel ab, die von den Bewohnern der Straße am Abend oder am frühen Morgen auf die Straße gestellt werden. Wo immer ihre Hände einen vielversprechenden Widerstand ertasten, reißt sie den Beutel auf und durchwühlt den stinkenden Inhalt nach brauchbarem Material. So zerrt sie Pappe, Papierfetzen, Glas, Plastik, Dosen, Kabel und anderen Hausrat aus den Tüten.

Während Yaki sich die Straße hinauf durch die verschiedenen Tüten wühlt, beginnt es Tag zu werden in San Juan de Lurigancho. Die Straßen beleben sich, Kleinbusse und Taxis fahren hupend an uns vorbei. Die Kassierer in den Bussen pfeifen, rufen uns dumme Bemerkungen zu, anzügliche Sprüche. Für Yaki ist das normal – sie hat sich angewöhnt, nicht mehr auf die Provokationen zu reagieren. Das bringt ja nichts...

Etwas später kommt Yaki’s Mutter mit dem Lastenfahrrad um die Ecke geradelt. Sie packt die bereits von Yaki gefüllten Säcke auf die Ladefläche. Dort sitzt die kleine Noemí, 6 Jahre alt, zwischen den Müllsäcken und kaut an einem trockenen Brötchen. Auf meine Frage, ob das Yaki’s Schwester sei, lacht die Mutter. „Nein, die Kleine lebt bei uns. Als sie zwei Jahre alt war, hat ihre Mutter sie bei uns gelassen. Sie konnte nicht mehr für sie sorgen, also ist sie bei uns.“ Noemí schaut mich mißtrauisch an. Sie erlebt selten, dass Fremde ihr mit Freundlichkeit und einem Lachen begegnen...

Jeden Tag um Punkt Sieben kommt das große, grüne Müllauto der Stadtverwaltung in Yaki's Straße und sammelt den Müll ein. Die Beziehungen zwischen den Müllsammlern und der Stadtverwaltung sind lausig. Die Stadtverwaltung versucht mit allen Mitteln, die Müllsammler zu verscheuchen, weil diese die Säcke und Beutel aufreißen und den ganzen Inhalt auf der Straße verstreuen. So ist es für die Angestellten der Müllabfuhr eine Heidenarbeit, den stinkenden Dreck wieder einzusammeln.

Yaki hat einen Deal mit den Leuten von der Müllabfuhr ausgehandelt: Sie hilft den Leuten von der Müllabfuhr, den Abfall auf den LKW zu verfrachten und hat dafür das große Privileg, alles, was an brauchbarem Material noch zum Vorschein kommt, in ihren Sack zu packen. Viele der Nachbarn bringen ihre Tüten direkt zur Müllabfuhr, um zu vermeiden, dass der Müll auf der Straße landet. Yaki nimmt die Tüten in Empfang, untersucht sie auf recyclebare Stoffe und wirft denn Rest in den Schlund des LKWs. Mit Schaufel und Rechen hilft sie den Müllarbeitern, den Dreck auf der Straße zusammenzukratzen. So hat sie sich deren Unterstützung versichert. Manchmal legen sie sogar große Pappstücke für Yaki zur Seite, weil sie wissen, dass diese besonders wertvoll sind.

Yaki's Vater hat die Familie verlassen, als die beiden Kinder noch ganz klein waren, und die Mutter hat in ihrer Verzweiflung angefangen, Müll zu sortieren. Ein hartes, dreckiges, nicht gerade lukratives Geschäft. Aber es hat gereicht, die zwei intelligenten Kinder durch die Schule zu bringen. Yaki's Bruder Yoel besucht inzwischen sogar die staatliche Universität. Die Mutter hat immer großen Wert darauf gelegt, ihre Kinder zu rechtschaffenen und anständigen Menschen zu erziehen, und das ist ihr gelungen. Für Yoel's Studiengebühren legen nun alle zusammen, auch Yoel selbst:hilft nach wir vor mit. Jeden morgenvon vier bis acht und abends von sechs bis zwölf wird Mülll gesammelt. In den Stunden dazwischen wird gelernt. Yaki versucht neben der Arbeit ebenfalls ein Studium zu absolvieren, aber das Wichtigste ist jetzt zunächst mal, dass Yoel sein Studium so schnell wie möglich fertig kriegt, Arbeit findet, die Familie dann mit seinem Geld unterstützen kann.

An das frühe Aufstehen, den Gestank, den Dreck und den schmerzenden Rücken hat Yaki sich längst gewöhnt. An die Beschimpfungen ihrer Mitschüler, der Nachbarn und der Leute am Straßenrand wird sie sich wohl nie gewöhnen. Wenn sie ihr zurufen „Friss doch den Müll!“, sie bespucken oder mit Müll bewerfen, trifft sie das im Innersten und eine tiefe Traurigkeit spricht aus den Augen dieser jungen und gleichzeitig doch so alt und abgehärmt wirkenden Frau.

Auf meine Frage, ob sie einen Freund habe, schaut Yaki nur auf ihre zerschundenen, zerkratzten und schmutzigen Hände und schüttelt verlegen mit dem Kopf. Wer will schon mit einer Müllsortiererin zusammen sein, in deren Hände sich der Dreck und die schwarzen Ränder schon seit frühester Kindheit eingegraben haben?

Auch in der Schule hatte sie nie Freunde. Sie geht nie aus, dafür hat sie weder Zeit noch Geld.... Die Familie hat so gut wie nie Gäste zu Hause – nur eine Tante aus Ayacucho kommt hin und wieder zu Besuch, alle anderen Vewandten wissen nicht, womit Marie, Yaki und Yoel ihren Lebensunterhalt verdienen. Es ist ein Tabu, mit dem sie zu leben gelernt haben.

Der größte Teil des Hauses dient der Müllsortiererei, nur zwei Zimmer werden von der Familie bewohnt, in dem größten Raum und im Hinterhof stapelt sich säckeweise der Müll. Jeden Samstag laden sie die Säcke auf das Lastendreirad und verkaufen den sortieren Abfall an die Händler. Pro Monat bringt das der Familie im Durchschnitt 800 Soles ein – das sind ungefähr 280 Soles.
Eine Weile hatte Yaki in einer Fabrik gearbeitet, 12 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, für 480 Soles im Monat. Nach zwei Monaten ist sie zu ihrem alten Geschäft zurückgekehrt. Das ist zwar nicht so sauber, und eine Krankenversicherung hat sie auch nicht, aber so kann sie in den Stunden zwischen der Müllsammlerei, das heißt zwischen 10 Uhr und 18 Uhr, anderen Tätigkeiten nachgehen. Studieren. Lernen. Versuchen, ihrem Leben eine andere Wendung zu geben.

Seit einigen Monaten gehören Yaki und ihre Mutter der Vereinigung der Müllsortierer von San Juan de Lurigancho an. Dieser Zusammeschluss wurde vom Zentrum für Städtische Entwicklung (CENCA) ins Leben gerufen. Das Ziel der Vereinigung ist es, die einzelnen Müllsortierer zu organisieren und so ihre Verhandlungsposition mit der Stadtverwaltung zu stärken. In Kürze wollen sie der neu gewählten Stadtverwaltung ihren Vorschlag für ein Kooperationsabkommen vorstellen. Den Vorschlag haben sie mit Hilfe von CENCA ausgearbeitet und er sieht vor, dass die in der Vereinigung organisierten Müllsortierer – wie Yaki – den Arbeitern der städtischen Müllabfuhr beim Aufsammeln des Mülls helfen und dafür ungehindert arbeiten dürfen. Außerdem schlägt die Vereinigung mittelfristig ein System zur Mülltrennung vor, um organischen Müll von nicht-organischem Müll zu trennen. Die Müllsortierer würden dann nur noch den unorganischen Müll auf brauchbares Material durchsuchen, was den Dreck auf den Straßen erheblich reduzieren würde. Den organischen Abfall könnte man außerdem kompostieren und verkaufen.

Bei CENCA hat Yaki gelernt, dass die Stadtverwaltung nicht nur „der Feind“ ist, sondern eine öffentliche Institution, die allen Bürgern offensteht. „Früher wäre ich niemals auf die Idee gekommen, in’s Rathaus zu gehen, um mit den Beamten dort zu sprechen. Jetzt gehe ich hin und spreche mit den Funktionären, die mit den Müllthemen betraut sind.Ich verhandle mit ihnen und stelle ihnen unsere Vorschläge vor.“ Noch ist keine Vereinbarung unterzeichnet worden, aber mit der Unterstützung von CENCA und im Verbund mit den 70 anderen Müllsortierern der Vereinigung hofft Yaki, dass sie in Zukunft bessere Arbeitsbedingungen haben wird.

Seit 4 Monaten ist Yaki auch Mitglied beim lokalen Radio von San Juan de Lurigancho. Über CENCA kam sie zum Radio-Team und moderiert dort nun wöchentlich eine Sendung zu Umweltthemen. „Das Radio hat mir geholfen, meine Arbeit mit anderen Augen zu sehen und mit mehr Selbstbewußtsein zu verteidigen. Was wir hier tun ist eine wichtige Aufgabe für die Stadt, für die Gesellschaft. Ich kenne mich aus mit Müll und ich weiß, dass wir in Peru noch viel zu lernen haben in Bezug auf Umweltschutz und Recycling. Im Radio kann ich über meine Arbeit reden und den Leuten zeigen, dass unser Job wichtig ist!“

Ich bewundere Yaki dafür, dass sie unter des Last ihres Lebens nicht längst schon zusammengebrochen ist. Dass sie weiter lebt, weiter kämpft, weiter hofft. Dass sie mir die Hand schüttelt, lachen kann, sich freuen kann, weinen kann. Dass sie bei alledem nicht abgestumpft ist oder zur Amokläuferin mutiert, in dieser so verdammt ungerechten Dreckswelt...

Als ich ein paar Stunden später wieder zu Hause bin, in meiner freundlichen, sauberen und geräumigen Wohnung, fühle ich mich mal wieder wie nach einem Ausflug auf einen anderen Planeten. Das Schicksal von Yaki und ihrer Familie hat sich tief in mein Herz eingegraben und eine ohnmächtige Wut erfasst mich... Was ist das für eine Welt, in der wir hier leben? Warum ist das Schicksal so grausam zu manchen Menschen? Und was habe ich für ein unsagbares Glück gehabt, in anderen Umständen aufzuwachsen... Ich fühle mich auf unglaubliche Weise privilegiert, unsagbar reich und verwöhnt und vom Leben mit einer Riesenladung Glück gesegnet.

Meine Einladung zum Cocktail-Empfang in der Deutschen Botschaft an diesem Abend lasse ich sausen. Die Vorstellung, nach diesem Tag bei Häppchen und Sekt gepflegt über die Ziele und Inhalte der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu plaudern, kommt mir zutiefst grotesk vor. Statt dessen lade ich eine Freundin ein, erzähle ihr von meinem Tag und leere mit ihr eine Flasche Wein... nach so einer Erfahrung wie der von heute erscheint mir das die einzige geeignete Maßnahme, mit der Schizophrenie der Welt zurechtzukommen...

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