Wandern zwischen den Welten....

08.02.09

Alejandro

Genau drei Monate ist das nun her, dass wir Alejandro und Rosa mit ihren vier Kindern in La Oroya zurückgelassen haben. Winkend standen sie im November 2008 vor dem Haus und schauten, wie die exotischen Besucher aus Deutschland wieder davonfuhren. Damals waren wir mit sehr gemischten Gefühlen weggefahren von dieser Familie, die wir zehn Tage lang begleitet hatten. Zu tief hatten uns unsere Filmarbeiten, die Interviews, die Einblicke in die triste Realität von La Oroya auch mit Alejandro’s und Rosa’s Geschichte verbunden. Wir fuhren weg mit dem Wissen, dass zwei der vier Kinder hohe Blei- und Arsenwerte im Blut haben. Dass das sehr gefährlich ist. Dass Alejandro seinen Arbeitsplatz bei Doe Run zum Ende des Jahres verlieren würde. Dass Rosa selbst Verdacht auf Krebs hat und nichts davon wusste. Kein Geld für eine vernünftige Diagnose. Kein Geld für eine langwierige Behandlung.

Nun – drei Monate später – sind wir wieder da. Stehen vor der grauen Hütte mit dem eingefallenen Dach, die klapprige Holztür steht halb offen. Wir klopfen. „Señora Rosa…?“ rufen wir. Und noch einmal, diesmal lauter: „Señora Rosa!!“

Rosa kommt aus dem dunklen Raum heraus in den Hof. Sie trägt den gleichen grünen Strickpulli wie vor drei Monaten, die gleiche blaue Wollhose. Auf dem Kopf eine lilafarbene Pudelmütze. Plötzlich fühlen wir uns, als wären wir nie weggewesen, hätten nie Weihnachten in Deutschland gefeiert, den Jahreswechsel erlebt, so viele, ganz andere Erlebnisse gehabt. Wir stehen wieder in dem dreckigen Hof, von den Leinen tropft die nasse Wäsche, die Rosa gegen ein kleines Entgelt für Nachbarn wäscht. Von gegenüber, gleich über die Straße und den Fluss hinweg, dröhnt wie eh und je der metallene Lärm der gigantischen Industrieanlage. Doe Run Peru. Marode steht die Schmelzhütte da, trotzig, störrisch, wie schon so lange. An Modernisierungsmaßnahmen hat die Anlage in den fast hundert Jahren ihrer Existenz immer nur das Allernötigste erfahren. Der riesiege Schornstein bläst beißenden, stechenden Rauch zu uns herüber. Wir wissen von unserer Reportage im November, was für ein giftiges Gemisch das ist, das sich wie eine Glocke über die Stadt legt, in Häuser, Nasen, Augen und Lungen dringt. Die Berge macht es kahl und grau. Die Menschen macht es krank. „Blei im Blut“ – das war der Titel unserer Reportage im November, und Rosa’s Kinder waren unsere Protagonisten.

Rosa hat für den Kalender mit den Erinnerungsfotos, den wir ihr mitgebracht haben, gar keinen Kopf. Zu sehr drängen die aktuellen Ereignisse sie zum Handeln. „Mein Mann ist sehr krank, Señorita. Kommen Sie herein.“ Wir drängen uns in die muffige, dunkle Hütte. Die grauen Holzdielen knarren. Das kaputte Fenster ist mit einem alten Plastiksack zugehängt. Im Zimmer stehen zwei Betten, auf denen sich grobe Wolldecken türmen. Die Luft riecht feucht und abgestanden. Der Boden ist schmutzig. Im Hintergrund dröhnt ein Radio. Alejandro sitzt in sich zusammengesunken auf dem Bett. Noch immer trägt er den weiß-grünen Trainingsanzug der Firma Doe Run – der Firma, die ihn über Jahre als Mitarbeiter im sogenannten Aufforstungsteam beschäftigt hat, zu einem Hungerlohn. Krankenversicherung, Kündigungsschutz und Arbeiterrechte exklusive. Der Firma, die seine Kinder mit ihren Unmengen von giftigen, stinkenden Abgasen krank macht. Der Firma, die ihn im Dezember ohne Angabe von Gründen zusammen mit 65 weiteren Arbeitern auf die Straße gesetzt hat. Der Firma, die für ihn einzige Hoffnung und Abgrund zugleich bedeutet. Nun sitzt er da und zieht langsam den übergroßen Sombrero von seinem Kopf: „Schauen Sie her, Señorita…“ Dort, wo vor drei Monaten noch dichte, dunkle Locken waren, ist jetzt ein kahlrasierter Schädel. Über dem linken Ohr prangt eine große, eckige Narbe. „Sie haben mir den Kopf aufgemacht. Sie haben mir einen Tumor rausoperiert.“ Vor vier Wochen war das. Viel mehr weiß er über seine Krankheit nicht zu sagen. Davon versteht er nichts. Nur dass es weh tut, das versteht er. Und dass es Angst macht. Große Angst.

Jetzt sitzt er wieder zu Hause. Rosa erzählt von den Schulden, die sie machen mussten, um die Operation und die Krankenhauskosten zu bezahlen. In den Gesichtern der beiden steht Sorge geschrieben. Elian und Juan, die beiden jüngsten Kinder, schauen betreten auf den Boden. Alejandro fühlt sich erschlagen. Es geht ihm nicht gut. Seit heute Morgen hat er wieder Schwindelanfälle, brutale Kopfschmerzen. Sein Gesicht ist bleich, seine Kräfte reichen noch nicht mal, um den Kopf zu heben. Wir drücken Rosa 150 Soles in die Hand, alles, was wir gerade in der Geldbörse haben. Sie soll ihren Mann so schnell wie möglich wieder in die Klinik nach Huancayo bringen. Er braucht ärztliche Behandlung. Wenn wir auch sonst nicht viel über seinen Zustand wissen – das ist ganz offensichtlich. „Gracias, Señorita. Gracias…“, sagt Rosa, und streicht dabei ihrer Tochter verlegen über den Kopf.

Wir gehen aus dem Haus. Stehen auf der Straße. Schauen auf die Industrieanlage gegenüber. Doe Run Peru. La Oroya. Metallurgische Hauptstadt Südamerikas. Was für ein Hohn. Ohnmacht überfällt uns. Trauer. Frust. Und Wut. Geballte Wut.

Warum tut niemand was gegen dieses Sterben? Wie kann es sein, dass alle wissen, dass diese Anlage, dieser Ort, einer der zehn verschmutztesten Orte auf diesem Planten, die Menschen krank macht, und nichts passiert? Wie kann es sein, dass dieses Unternehmen gigantische Gewinne einfährt und direkt gegenüber, keine zweihundert Meter entfernt, die Menschen an den Abgasen dieser Firma krepieren? Ich wollte den peruanischen Umweltminister damals, im November, provozieren, als ich ihn fragte, ob die Menschen in La Oroya wirklich von dieser Industrieanlage leben, oder ob sie nicht vielmehr daran sterben. Wie grausam berechtigt diese Frage war, wird mir jetzt, vor dem Haus von Rosa und Alejandro, noch einmal in aller Klarheit und Deutlichkeit bewusst.

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