Wandern zwischen den Welten....

19.11.05

Mamita, Mamita

Und wieder mal bin ich in den Anden unterwegs, diesmal führt mich meine Reise nach Abancay, einem angenehmen, sonnigen kleinen Ort auf knapp 2800 m über dem Meer, gut vier Autostunden von Cuzco entfernt, den ich nun schon zum vierten Mal besuche, um dort einen Workshop zum Thema „Bürgerbeteiligung und Soziale Kontrolle“ durchzuführen, der Teil eines Fortbildungszyklus’ für 25 Vertreter von Partnerorganisationen von Misereor ist.

Ich freue mich, an einem Ort anzukommen, den ich schon kenne, wo ich im Hotel gleich freundlich mit „Hola Susana, cómo estás“ begrüßt werde, wo ich mich schon während der Fahrt von Cuzco nach Abancay auf das kleine, neonbeleuchtete Café mit dem besten Fruchtsalat von ganz Apurimac freue und wo ich genau weiß, in welches der zahllosen Internetcafés ich gehen muss, weil dort netterweise nicht der sonst so typische, ohrenbetäubende Lärm herrscht - ein wildes Gemisch aus Salsa, Fernsehnachrichtensprecher, scherzenden Jugendlichen, die sich zu fünft vor einem Monitor quetschen und mit einem anderen Jugendlichen chatten, der nicht selten 3 Stühle weiter sitzt, und das wüste Geballer und Geheule der äußerst kreativen Computerspiele..... Ich kenne den jungen Mann, der an der Straßenecke seine Raubkopien verkauft – Bücher, CDs und DVDs - und wenn mal wieder eine DVD mit dem neuesten Kino-Kassenschlager nicht auf meinem Laptop läuft, kann ich sie ihm zurückbringen und gegen eine andere eintauschen. Nicht, dass die fünf Soles ein großer Verlust wären, aber man kauft doch gerne Qualität, egal ob es sich um Raubkopien oder Originale handelt.

Auf der Plaza steht der immer gleiche Junge mit seinem mobilen Backofen, es duftet herrlich nach frisch gebackenen Brötchen und Rosquitas, kleinen, geflochtenen Kringeln aus Mürbeteig, die mich immer an deutsches Weihnachtsgebäck erinnern. Auch er begrüßt mich mit einem herzlichen Lächeln – ich bin hier offenbar schon recht bekannt, und deshalb erstaunt es mich auch nicht weiter, dass die Leute mich inzwischen schon ganz vertraulich behandeln, eine irgendwie exotische Besucherin, die aber stur immer wieder aufkreuzt und daher im Stadtbild offenbar schon als nicht mehr ganz so exotisch wahrgenommen wird.

Ein beliebter Ausdruck dieser Vertrautheit ist in dieser Region der oft gehörte Kosename „Mamita“ – was wörtlich übersetzt „Mütterchen“ heißt – und eigentlich dachte ich bisher, dass in die Kategorie „Mamita“ in erster Linie faltige Großmütterchen fallen, vom Typ kleines, schmächtiges Hutzelweibchen mit Stock und Kopftuch. Ganz das Gegenteil von mir – jung, dynamisch, stocklos und alles andere als schmächtig. Daher zucke ich doch ein wenig zusammen, als der Taxifahrer mich am Morgen fragt: „Wohin soll’s denn gehen, Mamita?“ beschließe aber, nicht beleidigt zu sein und erkläre ihm, wo das Tagungszentrum ist, in dem heute mein Workshop beginnt.

Der Taxifahrer soll aber nicht der einzige bleiben, der mich vertraulich „Mamita“ nennt. Als ich am Abend zu Fuß vom Tagungszentrum zurück zum Hotel gehe, spricht mich eine für meine Begriffe veritable „Mamita“ auf der Straße an, zieht mich am Jackenärmel und fragt unvermittelt: „Mamita, bist Du Sozialarbeiterin von Beruf?“ Ich verneine bedauernd. „Aber, Mamita, was bist Du denn?“ Ich sage ihr, dass ich für Misereor arbeite, eine Institution der katholischen Kirche. Ihre Augen leuchten sogleich auf. Also doch sozial, scheint sie sich zu denken. „Wir brauchen Hilfe. Mein Enkel ist ungezogen, er geht oft einfach weg und kommt tagelang nicht nach Hause. Wir wissen nicht, wo er sich herumtreibt und er sagt uns auch nichts. Was sollen wir denn da machen?“ Ich bin etwas perplex und auch leicht überfordert mit dieser doch sehr konkreten Anfrage und versuche mich aus der Affaire zu ziehen, indem ich nochmal erkläre, dass ich als Nicht-Sozialarbeiterin und Nicht-Mutter keine Ahnung von diesen Dingen habe. Ob es denn keine Institution in Abancay gebe, die ihr zu diesem Thema Auskunft geben könne. „Nein, Mamita, die machen alle nix“ – sagt sie, und kramt derweil in den Abgründen ihrer Tasche herum, zieht schließlich einen eselsbeohrten Schreibblock heraus und fordert „Schreib’ mir Deine Adresse in Deutschland auf“. Ich frage sie, was sie denn mit meiner Adresse anfangen will und sie sagt: „Wenn Du aus Deutschland kommst, dann kennst Du doch bestimmt eine Organisation, die mir helfen kann.“ Ich erkläre ihr, dass ich zwar aus Deutschland komme, und dass ich auch Organisationen da kenne, aber selbst wenn ich dorthin zurückkehren würde, was bis auf Weiteres erst mal nicht der Fall ist, könnte ich ihr von dort aus so wenig Informationen geben wie jetzt, wo ich ja leibhaftig vor ihr stünde. Die Alte schient aber wild entschlossen, ihren kostbaren Fang nicht einfach unverrichteter Dinge von dannen ziehen zu lassen, hält mir erneut Block und Stift unter die Nase und fordert „schreib’ mir trotzdem Deine Adresse auf.“ Ich erkläre ihr weiter, dass die Organisationen, die ich kenne, nicht direkt mit Einzelpersonen arbeiten, sondern über Partnerorganisationen im Land. Wie zum Beispiel mit Caritas – im Falle von Misereor und Abancay. Ob sie dort schon gewesen sei? „Ja, Mamita, die können mir auch nicht helfen.“ Ich bin nach wie vor ziemlich ratlos, da fällt mir zum Glück eine Organisation in Cuzco ein, die mit Straßenkindern arbeiten. Die müssten ihr vielleicht einen Rat geben können. Die alte Frau runzelt die Stirn. „Cuzco“ – sagt sie etwas zögerlich. Ich bin mit ihr einig, dass das nicht optimal ist, aber immerhin besser als ein Kontakt in Deutschland, von wo sie sicher noch nicht mal eine Antwort bekommen würde, und das Geld für das Porto wäre in den Sand gesetzt. Das Argument leuchtet ihr ein und mit halbwegs zufriedenem Gesicht stopft sie ihren Schreibblock mit dem Namen der Organisation zurück in ihre Tasche, drückt mir die Hand und sagt: „Danke, Mamita, pass auf Dich auf“ und entläßt mich endlich aus ihren Fängen. Ich gehe weiter meines Weges zum Hotel und denke gerade, dass ich ja offenbar echt alt aussehen muss, wo mich heute alle mit „Mamita“ ansprechen, als ich an einer etwa zwanzigjährigen Mutter vorbeigehe, die ihrem in einem Tragetuch auf ihrem Rücken festgezurrten, quengelnden Sohn über die Schulter hinweg zuruft“ „Ja, ja, ja, Papito, gleich sind wir zu Hause, sei schön brav, gleich, gleich sind wir da.“ Ich wäre fast in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ein sechsmonatiges „Väterchen“ – das gibt’s wohl nur in Peru!

11.11.05

Gold, Gold, Gold

In den vergangenen drei Tagen habe ich an einer Konferenz zum Bergbau in Lateinamerika teilgenommen. Ein trauriges Thema, nicht erst seit heute, sondern für Lateinamerika schon seit über 500 Jahren, seit nämlich die Europäer mit ihrer Gold- und Geldgier ihren Fuß auf diesen Kontinent setzten. Wo Gold ist, gibt es immer Konflikte. Und je mehr Gold, um so größer die Konflikte, wie es scheint.

Hier in Peru – wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens – geht es bei den ganzen Bergbaukonflikten vor allem um zwei Dinge: Land und Wasser.

Die Problematik läßt sich schnell erklären: korrupte Regierungen verkaufen für einen Apfel und ein Ei die Rechte, die wertvollen Mineralien abzubauen. In Peru sind inzwischen 12% des nationalen Territoriums konzessioniert, in Honduras sind es über 35%. Die Bergbauunternehmen kommen aus den USA, Kanada, Australien, der Schweiz.

Abgebaut werden alle möglichen Metalle, in Peru vor allem Gold, das nach dem dreckigen Abbaugeschäft als relativ sauberer Rohstoff in die Schweiz verfrachtet wird, welcher dann zu Goldbarren geschmolzen, die dann wiederum nach Indien und Pakistan verkauft werden, wo sie sich in Ohrstecker und Armreife verwandeln und zum Statussymbol und Brautschmuck für zum Teil selbst bettelarme indische Frauen werden.

Der Abbau erfolgt nicht mehr im Stollen, wie vor 100 Jahren, sondern im Tagebau, wo sich selbst feinster Goldstaub noch aus der Erde extrahieren läßt. Ein großer See aus Wasser und Zyanid unter freiem Himmel dient als Chemielabor: Berge werden Schicht für Schicht abgetragen, das Erdmaterial in den Zyanidsee geworfen, in einem chemischem Prozess trennt sich das Gold von der Erde und dem Gestein. Aus einer Tonne Erdmaterial gewinnt man auf diese aufwendige Weise eine Unze Gold.

Um eine Tonne Erdmaterial zu verarbeiten, benötigt man drei Tonnen Wasser. Im letzten Jahr wurden in Peru mehr als 180 Tonnen Gold produziert, die jährliche Wachstumsrate dieses Industriezweigs liegt bei etwa 8 Prozent.

Bedenkt man, dass Peru zu großen Teilen ein Wüstenland ist, in dem Wasser ein extrem knappes Gut ist, und bedenkt man weiter, dass das Wasser, welches von der Mine freigesetzt wird, für landwirtschaftliche Zwecke nicht mehr nutzbar ist, kann man sich ohne viel Phantasie die Konflikte zwischen Bergwerk und Bauern vorstellen.

Wenn die Mine nach relativ modernen Standards arbeitet (europäische Standards werden hier selbstverständlich nie angewandt), setzt sie nur bei den diversen kleinen oder großen „Unfällen“ größere Mengen von Chemikalien frei - der Rest der durchaus permanent vorhandenen Umweltverschmutzung erfolgt in kleinen Dosen, welche nur dann nachweisbar sind, wenn regelmäßig Wasserproben an immer den gleichen Stellen mit immer den gleichen Standards entnommen und analyisiert werden und so die kontinuierliche Verschlechterung der Wasserqualität über die Zeit hinweg nachgewiesen werden kann. Dieses Verfahren ist aufwendig und kostspielig. Es braucht gut ausgebildete Techniker und unabhängige Labore - alles Voraussetzungen, die in Peru derzeit nicht gegeben sind.

Wenn die Mine schon seit vielen Jahren produziert (und derer gibt es in Peru viele), braucht es erst gar keinen Unfall, um zum Beispiel den Bleigehalt im Blut der Kinder in der Umgebung der Mine um ein Fünffaches über den erlaubten Höchstwerten der WHO liegen zu lassen.

Auch Land ist eine knappe, wertvolle Ressource in Peru, vor allem fruchtbares Land, das für den Ackerbau taugt. Land, das mit Hilfe von künstlicher Bewässerung zu einer Lebensgrundlage wird. Kommt die Mine, wird die Landwirtschaft unmöglich, ganze Dörfer werden umgesiedelt, die Bauern mit einem kleinen Taschengeld abgespeist, wovon und wie sie in Zukunft leben sollen, müssen sie selbst herausfinden.

Die Umweltgesetzgebung von Peru ist relativ vorbildlich – weniger vorbildlich ist leider die Regierungsführung, welche Korruption zur gängigen, nicht sanktionierten Praxis macht. So erstaunt es nicht, dass die Industrie nur allzu gerne und häufig die Umweltauflagen ignoriert und statt dessen ein saftiges Schmiergeld zahlt, damit der zuständige Funktionär beide Augen zudrückt. Auch Konzessionen für Minengebiete werden auf diese Art vergeben – keine vorherige Konsultation der betroffenen Bevölkerung, kein Mitspracherecht – und dann wundert man sich über die wachsende Zahl an schwelenden Bergbaukonflikten im Land, wo Bauern auf die Barrikaden gehen, Zufahrtsstraßen blockieren und mit gewaltsamen Maßnahmen ihre Rechte einfordern. Im letzten Jahr gab es unzählige Verletzte und mehrere Tote bei diesen Konflikten.

Es gibt keine Umweltaufsichtsbehörde in Peru. Die Aufgabe, über die Einhaltung der Gesetze und Umweltauflagen zu wachen, fällt den Bauern in den Gemeinden zu. Ein Witz! Bauern, die häufig nicht mal lesen und schreiben können, sollen transnationalen Konzernen nachweisen, dass sie die Umwelt verschmutzen. Fragt man die Bauern, wie sie beweisen wollen, dass der Dreck von der Mine kommt, erzählen sie von verstorbenem Vieh, von toten Fischen im Fluss, vom ekligen Geruch des Wassers. Doch ohne eine wissenschaftlich handfeste Studie mit harten Fakten und Daten ist dieser Kampf nicht gewinnen. Studien aber sind teuer. Wenn das Bergbauunternehmen großzügig ist, bezahlt es eine Umweltstudie. Durchgeführt von einem Beratungsbüro, welches dem Bergbauunternehmen gehört. In diesen Studien kann man dann schwarz auf weiß nachlesen, dass von der Mine keinerlei Gefährdung für Mensch und Tier ausgeht, dass 95% des Wassers recycelt werden und dass der ganze Bergbau zwar zum Himmel stinken mag, aber eigentlich eine sehr, sehr saubere Sache ist.....

Man kann sich leicht die Wut der Bauern vorstellen, die sich durch die Mine ihrer Lebensgrundlage beraubt sehen. Nicht nur beansprucht die Mine einen großen Teil des knappen Wassers für ihre Zwecke und entzieht sie so der Landwirtschaft und den Bewässerungskanälen. Auch bezahlt die Mine häufig noch nicht mal für das Wasser. Immer wieder passieren „Unfälle“ und Chemikalien wie Zyanid oder Quecksilber gelangen in die Umwelt.

Trotz massiven Wachstums dieses Industriesektors in Peru hat die Armut in den betreffenden Regionen nicht abgenommen. Wer davon profitiert, sind in erster Linie die Unternehmen und eine kleine, ohnehin privilegierte Oberschicht, die ihre Finger im Minengeschäft hat.

Der hochtechnisierte Tagebergbau schafft kaum Arbeitsplätze – in den Bergbauregionen geht der Reichtum, was bleibt, ist die Armut, und oftmals eine Wüstenlandschaft mit irreparablen Umweltschäden, die noch Jahrzehnte lang weiterbestehen, wenn das Bergbauunternehmen längst seine schwere Maschinerie abgezogen hat und seine Gewinne an anderer Stelle erwirtschaftet.

Immer öfter gehen deshalb die Bauern und Gemeinden auf die Straßen, protestieren gegen diesen Raubbau an der Natur, gegen das Abrasieren der Berge, die für die Inkas „Apus“ waren – Götter, beseelte Wesen, deren Gunst man sich immer und immer wieder durch Opfer und Redlichkeit sichern musste.

Unterstützt werden die Bauern von nationalen NGOs, die wiederum finanziert werden mit Geldern der Entwicklungszusammenarbeit. Auch Misereor engagiert sich stark im Bergbaubereich, für die Einhaltung der Menschenrechte, für die Einhaltung von Umweltstandards, für ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht der betroffenen Bevölkerung.

Doch es wird auch deutlich, dass es hier nicht „nur“ um Wasser-, Land- und Umweltprobleme geht. Es geht um das Wertemodell einer globalisierten Weltgesellschaft, deren höchstes Ziel das Ansammeln von Macht und Reichtum ist.

Die Bauern in Cajamarca und Apurimac teilen dieses Weltmodell. Sie wollen auch ihren Teil vom großen Kuchen abhaben. Man will mitentscheiden, mitreden, vor allem aber auch mitverdienen. Es reicht nicht mehr, nur zuzusehen, wie die Gewinne in großen LKWs aus dem Land geschafft werden. Die Leute wollen mit profitieren, damit sie ihren Kindern eine bessere Schulbildung bezahlen können, damit sie sich einen Fernseher kaufen können, ein Auto, all diese schönen, glänzenden Errungenschaften der modernen Welt. Ein Goldring darf schon auch mal dabei sein.

Weiterführende Infos zu diesem Thema unter http://www.nodirtygold.org/cajamarca_peru.cfm

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03.11.05

Todos los Santos - Allerheiligen

Erster November 2005 – Allerheiligen. Ich habe mit einem Freund ausgemacht, dass wir gemeinsam zu einem der größten Friedhöfe Limas fahren, in Villa Maria del Triunfo, einem der vielen armen Stadtteile Limas, in denen die ganze Schizophrenie dieser verrückten zu Tage tritt...

Der Friedhof ist riesengroß, hier sind ca. 30.000 Gräber - teils Mausoleen aus Beton und Kachelsteinen, teils schlichte Holzkreuze im staubigen Wüstenboden mit ein paar tristen Steinen, die die Fläche kennzeichnen, unter der der Tote begraben liegt. An Allerheiligen pilgern die Familienangehörigen zum Grab – teils kommen sie von weit her angereist, um den Toten zu besuchen, teils wohnen sie gleich um die Ecke.

Sie bringen Essen und Trinken mit, am Straßenrand und im Friedhof sind viele Stände, an denen man Blumensträuße kaufen kann, und wer kein Geld für echte Blumen hat, kann für 2 Soles ein Blumenbouquet aus Plastik kaufen. Dicke Frauen mit bunten Schürzen verkaufen die für diesen Tag typischen Wawas - Teigfiguren mit bunten Zuckerstreuseln, die den Toten als besondere Spezialität angeboten werden und die auch den Lebenden nicht schlecht munden. Andere verkaufen kleine Spielzeugwaren für die Gräber der Kinder, Wasser in Plastikbeuteln für die Blumensträuße, da ist ein Karussell und ein kleines Riesenrad, unzählige Essensstände säumen den Weg, auf dem Friedhof stehen schon die Blaskapellen bereit, die gegen ein kleines Entgelt eine typische Melodie aus der Heimatregion des Verstorbenen spielen. Es mischen sich schrille Trompetenklänge mit den sanften Tönen der andinen Harfe oder dem dumpfen Schlagen der Bongos. Es herrscht ein buntes Treiben auf dem Friedhof –mindestens 150.000 Menschen sind auf den Beinen, schieben sich in einem großen Strom in den Friedhof hinein, klettern zwischen den Gräbern herum oder sitzen auf den Gräbern ihrer Angehörigen, trinken, essen, unterhalten sich. Erzählen dem Toten, wer alles gekommen ist und wer heute leider aufgrund anderer Verpflichtungen verhindert ist – so als ob der Tote zwar hören, aber nicht sehen könnte....

Es wird gebetet, oder man läßt – ebenfalls gegen ein kleines Entgelt – beten und beauftragt dafür einen professionellen „Rezador“, einen Beter, der auch das eine oder andere lateinische Gebet zum Besten gibt, ein paar Lieder singt und dann zum nächsten Grab weiterzieht. Auf dem Friedhof riecht es nach gebratenem Hühnchen, nach Chicharron und Buñuelos, nach Staub und Bier und Zuckerwatte. Es ist eine wilde Mischung aus Volksfest und Trauermarsch, Rosenkranzgebet und Besäufnis, fröhlicher Ausgelassenheit und trauriger Melancholie. Hier und da hört man typische Klänge, traditionelle Lieder, gesungen von Leuten, die nicht gerade als begnadete Sänger bezeichnet werden können, die aber mit voller Inbrunst ihr Bestes geben. Man sieht immer wieder Menschen in andinen Trachten, die den Verstorbenen einen Scherentanz darbieten. Die Sonne scheint den ganzen Tag, was die grauen Hügel, auf denen sich der Friedhof erstreckt, in ein gnädiges Licht taucht.

Wir wandern zwischen den Gräbern umher und während für Daniel und mich der Friedhof und seine Menschen die Attraktion sind, werden wir zur Attraktion für die Menschen auf dem Friedhof. Eine Gringa – was tut die hier? Woher kommt sie? Was sucht sie hier? Immer wieder sprechen uns Leute an – ob wir einen Toten besuchen? Warum wir hier sind? Die Leute sind freundlich. Manche sind ganz offensichtlich schon leicht angetrunken, aber alle sind friedlich, ich habe keine Angst, wenngleich mich viele gewarnt hatten, nicht zu diesem Friedhof zu fahren, weil es gefährlich sei.

Eine Familie an einem Grab lädt uns ein, mit ihnen Bier zu trinken. Wir kommen ins Gespräch – die Mutter erzählt, dass der Verstorbene ihr Sohn ist, der vor zwei Jahren in einer Schlacht zwischen zwei Straßengangs ums Leben kam. Ermordert von ein paar Jugendlichen, in dem Stadtteil, der sich gleich an den Friedhof anschließt und ihn langsam völlig umschließt. Er war 21 Jahre alt. Die Mutter hat traurige Augen und doch erzählt sie all das, als ob es schon unendlich lange her wäre und mit dem Hier und Jetzt und Heute nicht viel zu tun hätte. Sie hat mit dem Mord an ihrem Sohn abgeschlossen, da ist kein Groll und keine Wut mehr, auch keine Resignation oder Depression. Einfach nur das Akzeptieren der harten Wahrheit. „Was will man da machen?“ ... fragt auch der Vater und zuckt bedauernd mit den Schultern. „Hier in Peru passieren seltsame Dinge. Früher war das nicht so. Früher musste man nicht um sein Leben fürchten. Aber seit ein paar Jahren passieren komische Sachen in Peru. Das Leben wird härter. Viel Gewalt. Viel Kriminalität. Viel Leid.“ Wir schauen betreten auf den Boden. Der Bruder gießt nochmal Bier in das Glas. „Salud“ – „Salud“. So ist das Leben eben. Was soll man da machen? Wir bedanken uns für die nette Einladung, machen zum Abschied ein Foto, auf dem alle fröhlich lachen, und ziehen weiter.

Als die Sonne untergeht, verwandelt sich der Friedhof in ein Meer aus Kerzen. Es sieht wunderschön aus. Friedlich ziehen die vielen Menschen in einem plaudernden, scherzenden, lachenden Strom Richtung Friedhofstor. Todos los Santos – Allerheiligen. Wie die Peruaner da auf den Gräbern ihrer Angehörigen sitzen, denke ich, dass dies ganz typisch für ihre Haltung zum Leben ist. Was will man machen – es ist wie es ist und man muss es leben, wie es ist. Man sitzt auf einem Grab, aber das Leben geht weiter. Besser, man denkt nicht zu viel über all das Traurige nach, trinkt noch einen Schluck Bier, erzählt einen Witz, lacht, freut sich so weit wie möglich des Lebens....

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