Wandern zwischen den Welten....

08.02.10

Wo die Geschichte der Avatar Wirklichkeit wird

Am Samstag war ich im Kino. Der neue millionenfache Kassenschlager heißt „Avatar - Aufbruch nach Pandora“. In der Beschreibung steht, es sei ein Science-Fiction-Film. Computeranimierte, faszinierende Bilder aus einer märchenhaften Welt. Eine ergreifende Geschichte, die auf dem fernen Planeten Pandora spielt. Na’vi heißen die Eingeborenen dieses Planeten, die in enger Verbundenheit und perfekter Harmonie mit der Natur leben und die von bösen, geldgierigen Menschen, die in ihrem Raumschiff vom Planeten Erde gekommen sind, bedroht werden. So weit die Beschreibung. Doch je länger ich im Kino sitze und je weiter ich mich von der Geschichte davontragen lasse, umso klarer wird mir: das ist keine Science Fiction. Das, was da in knapp drei Stunden erzählt wird, ist über weite Strecken absolut real. Die Geschichte der Na’vi auf dem fernen Planeten Pandora wiederholt sich täglich hundertfach auf unserem Planeten. Es ist eine Geschichte, der ich in meiner Arbeit ständig begegne. Eine Geschichte, gegen deren grausamen Ausgang wir - Misereor und die Partnerorganisationen in Lateinamerika, Asien und Afrika - ständig ankämpfen. Mein Pandora heißt Cajamarca. Es liegt im Norden Perus. Meine Na’vi sind einfache Bauern, Cajamarquinos, die von gierigen Unternehmen aus fernen Ländern in ihrer Existenz bedroht werden. Die Unternehmen wollen an die kostbaren Rohstoffe auf dem Land der Cajamarquinos. Sie wollen diese Rohstoffe unbedingt und um jeden Preis. Sie sind durchaus auch bereit, dafür über Leichen zu gehen. Was im Film der heilige Baum der Na’vi ist, ist in Cajamarca der Cerro Quilish. Kein Baum, sondern ein Berg. Aber eben nicht irgendein Berg, genauso wenig, wie der heilige Baum im Film „Avatar“ irgendein Baum ist. Es ist ein heiliger Ort. Ein unantastbarer Ort. Ein geweihter Ort. Ein Ort, an dem die Cajamarquinos beten und der Mutter Erde Opfer bringen.
Das US-amerikanische Bergbau-Unternehmen Newmont lässt sich von solch spiritueller Spinnerei kaum beeindrucken. Wie die bösen Menschen im Film Avatar über die göttliche Energie, die der heilige Baum den Na’vi verleiht , nur höhnisch lachen können, so wischt auch Newmont das Argument von der Unantastbarkeit des Cerro Quilish mit einem Handstreich vom Tisch. Unter dem Quilish ist Gold. Gold in hohen Konzentrationen. Gold, auf das die gierige Welt wartet. Das ist das Einzige was zählt. Das gute Geschäft wird man sich doch nicht von ein paar primitiven Bauern verderben lassen! Und so fährt das Unternehmen seine großen Geschütze gegen die Bauern auf, rollt mit schwerster Maschinerie an, bringt Polizei, Militär und Waffen mit und kämpft um den Zugriff auf das Gold. Auch die Cajamarquinos in Peru kämpfen: um ihren heiligen Berg. Um den Erhalt ihrer Wasserquellen. Um ihr Land. Um die Bewahrung der gottgegebenen Schöpfung. Die Cajamarquinos haben keine Waffen. Sie gehen zu Fuß oder reiten auf Pferden. Sie haben kein Tränengas, keine Bulldozer und keine Hubschrauber. Sie haben nur eins: ihre Überzeugung. Waffen und Macht der zwei Kontrahenten sind sehr ungleich. An vielen, vielen Orten auf diesem, unserem ganz realen Planeten verlieren deshalb täglich Hunderte und Tausende von Bauern diesen ungerechten Kampf. Müssen ihr Land räumen. Ihre heiligen Stätten zurücklassen. Müssen weggehen. Sich eine neue Heimat suchen. Nicht selten in den Armenvierteln der großen Städte.
Pandora ist nicht fern von unserem Planeten. Avatar ist nicht Science Fiction. Die Bedrohung, der die Na’vi ausgesetzt sind, wiederholt sich täglich tausendfach. All das ist real. Ungewöhnlich erscheint mir nur, dass Millionen von Menschen sich diesen Film im Kino ansehen, sich berühren lassen, sich mitreißen lassen, im Geiste mitfiebern und hoffen, dass die Na’vi ihren Lebensraum verteidigen können. Während die Cajamarquinos und viele andere bedrohte Völker in der sogenannten „Dritten Welt“ ihren Kampf gegen die großen Bergbauunternehmen ohne große Öffentlichkeit und ohne millionenfache Unterstützung ausfechten müssen.

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Unterwegs von La Paz nach Orurooooo!!!!

Ich sitze im Zug von Frankfurt nach Köln. Der moderne ICE mit seinen eleganten Großraumabteilen gleitet nahezu lautlos auf den Schienen dahin. Schnee und Eis flitzen hinter der getönten Scheibe vorbei, bei uns hier drinnen ist es kuschelig warm. Die dezente Beleuchtung schafft eine lauschige Atmosphäre, aus meinem Kopfhörer säuselt leise klassische Musik. Der Zugführer informiert uns auf deutsch und englisch über die Speisen, die der Chefkoch heute im Bordrestaurant für uns zubereitet. Gepflegte, gut gekleidete Menschen stecken ihre Nase in die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, arbeiten am Laptop oder unterhalten sich in gedämpftem Ton. Eine schläfrige Atmosphäre liegt über dem Raum. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und meine Gedanken wandern zurück zu einer anderen Reise, auf einem anderen Kontinent, vielleicht war es sogar auf einem anderen Planeten…Gut drei Monate liegt das nun schon wieder zurück… ich war für Misereor im Hochland Boliviens unterwegs, sollte dort Partnerorganisationen kennenlernen und strategisch beraten….

….nachdem ich die ersten drei Tage in der auf 4000 m über dem Meer gelegenen Metropole La Paz verbracht und dort zahlreiche Gespräche geführt hatte, machte ich mich auf den Weg in die bolivianische Provinz, genauer gesagt nach Oruro, einem Bergbaustädtchen, das früher ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum in Bolivien war und sich heute nur noch dunkel an den einstigen Glanz erinnert… Die Wahl des Verkehrsmittels fiel nicht schwer - Züge und Flugzeuge gibt es auf dieser Strecke nicht, also kaufte ich mir am quirligen Busbahnhof von La Paz ein Busticket zum sagenhaften Preis von 20 Bolivianos, das sind umgerechnet etwa 3 Euro. Für die 230 km lange Strecke bräuchten wir etwa 5 Stunden, erfuhr ich am Schalter. Ich solle mich dann so ungefähr 15 Minuten vor Abfahrt des Busses auf der Abfahrtsplattform einfinden. Mir blieb noch eine halbe Stunde, und so drehte ich eine Runde durch den Busbahnhof, einer bunten Ansammlung von Verkaufsbuden, vor denen Marktschreier lautstark die noch freien Sitzplätze anpriesen. „Oruro, Oruro, Oruuuurooooo“, ruft eine in einen dicken, graubraunen Mantel gehüllte Mittfünfzigerin vor dem Stand meines Busunternehmens mit dem Namen „Trans Azul“. Von gegenüber tönt es „Potosí, Potosí, Pottoooosiiiii“ und auch „Cochabambaaaa“ und „Sucresucresucresucre“ fehlen nicht. Zwischen den Ticketständen laufen Ambulantes umher, die sich einen Bauchladen mit Süßigkeiten, Zigaretten und Coca Cola umgeschnallt haben oder selbstgemachte Salteñas an die Reisenden verkaufen.

Kurz vor der angegebenen Abfahrtszeit beginnt der Fahrer den Bus zu beladen. Kartons, Koffer, Schachteln, Taschen und Plastiktüten türmen sich schon auf der Abfahrtsplattform. Das Busunternehmen, das sich einen modernen Anstrich geben will, fordert uns Fahrgäste zum „Boarden“ auf. Ich ergattere einen Fensterplatz in der dritten Reihe, krame die Reisetabletten aus dem Rucksack (man weiß ja nie…) und verstaue mein Gepäck unter dem Vordersitz. Die Luft riecht abgestanden, erst wenige Minuten zuvor haben die aus Oruro ankommenden Fahrgäste den Bus verlassen und den Mief einer fünfstündigen Busfahrt zurückgelassen. Ich versuche, das Fenster aufzuschieben, doch es klemmt und ich insistiere nicht lange. Neben mir lässt sich ein Mann in Jeans und Sweatshirt in den Sitz fallen. Zum Glück nicht eine dieser beleibten Hochlandmamis mit ihren zahlreichen voluminösen Röcken, Ponchos und Kindern, huscht es mir durch den Kopf und ich schäme mich sogleich pflichtschuldigst für meine Gehässigkeit. Mein Sitznachbar wirft einen kurzen Blick zu mir herüber. Eine „Gringa“ also, eine Ausländerin…Aha!... Was die wohl so ganz alleine hier macht?? Und was will so jemand denn in Oruro?? Ich grüße ihn und gebe damit zu erkennen, dass ich spanisch spreche. Sein Gesicht hellt sich auf und noch während der Bus aus seiner engen Parklücke rangiert und dabei große schwarze Abgaswolken in die Luft bläst, fragt er mich, woher ich komme, was ich hier mache, wohin ich reise…und das alles ganz alleine???.... Ich kenne diese Fragen aus unzähligen gleichen oder ähnlichen Situationen und trotzdem langweilen sie mich nicht. Im Gegenteil - ich bin ja auch ganz froh, dass jemand neben mir sitzt, mit dem man ein bisschen plaudern kann…Emilio - so der Name meines Sitznachbarn - ist ein aufgeschlossener und vielseitig interessierter Mensch und hat ein ganzes Arsenal von Fragen parat, will wissen, wie das denn so ist, dieses Deutschland? wie es sich dort lebt? wie die Politiker dort sind? Und die ganze moderne Industrie…? …Ist dort wirklich alles so toll durchorganisiert, wie man immer hört?...

Emilio hat Verwandte im Krankenhaus in La Paz besucht und ist jetzt auf dem Weg zurück zu seiner Familie - Frau, zwei Mädchen (zahnlückenstrahlende Zwillinge, wie ich auf dem Foto sehen kann) und ein kleiner Sohn. Emilio arbeitet bei einer Zollbehörde, deren wichtigstes Importgut japanische Gebrauchtwagen sind, die in Oruro von Linksverkehr auf Rechtsverkehr umgerüstet und dann verkauft werden - ein Handel, den Emilio nicht wirklich gut heißen kann, diese ganze Überschwemmung mit japanischen Gebrauchtwagen, deren Kilometerstand auf Null gesetzt wurde und über deren Qualität man deshalb auch nur Mutmaßungen anstellen kann… überhaupt hat Emilio sehr klare Ansichten und Meinungen zu allen möglichen Themen. Sein Urteil über die bolivianische Regierung ist hart. Seine Ansprüche sind hoch. Seine Enttäuschung über die bolivianische Mittelmäßigkeit entsprechend groß.

Diese Mittelmäßigkeit, ja schlimmer noch, die absolute Provinzialität seiner Landsleute lässt sich ja schon an so einer Busfahrt wie wir sie gerade unternehmen bestens beobachten, ereifert sich Emilio. Muffige Busse, die Sitze verschlissen, die Schiebefenster kaputt…über den Zustand von Motor und Bremsen wollen wir lieber gar nicht erst spekulieren…„Und das Schlimmste an allem“ - so Emilio mit echtem Abscheu in der Stimme: „kaum sitzt man im Bus und lässt das Ortsschild hinter sich, packen die Leute um einen herum ihre mit Reis, Hühnchen oder gebratenen Schweinsfüßen gefüllten Schüsseln und Tüten aus und verwandeln den Bus geruchsmäßig in eine fetttriefende Hähnchenbraterei.“ „Ich hasse das“, echauffiert sich Emilio. „Mir wird jedesmal speiübel, wenn der ganze Bus nach gebratenem Huhn stinkt und ich dann stundenlang in diesem Mief hocken muss.“

Ich grinse amüsiert über Emilios Ausbruch und gestehe, dass ich mit dem Hühnerthema eigentlich ganz gut leben kann. Was mich viel mehr nervt, sind die gewalttätigen Action- und Horrorfilme, die auf langen Überlandfahrten meist nach kurzer Zeit ins Videogerät geschoben werden. Dann ziehen die Leute die Vorhänge zu, rücken ihre Kinder auf dem Schoß zurecht und schauen wie hypnotisiert auf den flimmernden Bildschirm, der über ihren Köpfen hängt. Die Lautstärke, in der die Filme vorgeführt werden, macht es so gut wie unmöglich, sich dem Spektakel zu entziehen. Ich steige deshalb nie ohne Oropax und Augenklappe in einen Bus, und bin unter den gegebenen Umständen auch gerne bereit, Emilio ein paar von meinen Ohrstöpseln als Nasenstöpsel zur Verfügung zu stellen…

Und wie wir noch so fröhlich am Lästern sind, taucht die dicke Mamita im Sitz neben uns in ihre vollgestopfte, karierte Plastiktüte, zieht eine mit orangefarbenen Blümchen verzierte Emailleschüssel heraus, öffnet sie und heraus strömt der Duft von …ja was wohl??...Reis und Hühnchen!!! Emilio beobachtet das Ganze mit einer köstlichen Mischung aus Verblüffung und Ekel. Dann schauen wir uns an und brechen in schallendes Gelächter aus. Doch das geht schon in der Titelmusik des soeben lautstark gestarteten „Karate Warrior“-Videos unter…

21.12.09

Zurück in vertrauten Gefilden !!!

Uff…nach 2 ½ intensiven, spannenden, anstrengenden, zum Teil beschwerlichen, zum Teil wirklich superschönen Wochen in Bolivien bin ich jetzt wieder in Lima gelandet. Lima…das fühlt sich immer noch und immer wieder nach „zu Hause“ an. Schon der Flughafen – so wohlbekannt, erst das Prozedere bei der Immigration, dann das Warten am Gepäckband, schließlich der rote/grüne Zufallsknopf – muss ich mein Gepäck dem Zoll vorführen oder komme ich so davon? Ich habe Glück, der Knopf gibt grünes Licht, ich gehe durch den Zoll, schnappe mir einen Taxifahrer und trete vor das Flughafengebäude. Hmmmm - da bin ich also, tauche ein in diese typisch limeñische Mischung aus feuchter Meeresluft und Autoabgasen… nach den Wochen in den sauerstoffarmen Höhen der Anden kommt mir diese Luft vor wie die schönste Brise auf der ganzen Welt! Das Taxi biegt ein auf die Avenida Faucett und in mir macht sich Festtagsstimmung breit. Um mich herum jede Menge hupende Taxis, knatternde und scheppernde Busse, aus allen Nähten platzende Combis. Juhuu! Ich bin zu Hause!!! Wir quetschen uns durch die Straßen, durch gewiefte Manöver versuchen wir immer wieder, einem anderen Taxi einen Zentimeter Vorsprung abzuringen…im Jahr 2009 gab es bereits mehr als 563 Unfalltote auf Lima’s Straßen, das konnte ich eben in der Zeitung auf dem Flug von La Paz nach Lima nachlesen. 0,19% der Fälle gehen auf technisches Versagen zurück – die restlichen 99,81 % sind dann wohl zurückzuführen auf den absoluten Wahnsinn der limeñischen Fahrer…wen wundert’s??? Ob Bus, Taxi, Combi oder Privatwagen – hier fahren alle wie die Bekloppten. Lieber das eigene Leben riskiert als einem anderen die Vorfahrt gewährt – das ist hier das Motto! Aber… so bescheuert das vielleicht klingen mag… heute tauche ich in dieses lärmige, stinkende Chaos ein und finde es einfach nur großartig!

Der Weg nach Miraflores ist mir vertraut wie meine Westentasche, der Taxifahrer ist gesprächig, erzählt mir die neuesten Schoten aus Alan García’s Regierungs(un)wesen, arbeitet ganz nebenbei den üblichen Fragenkatalog ab von wegen „woher kommst Du?“ „was machst Du hier?“ „und Dein Ehemann – Peruaner oder Deutscher?“ und ich könnte ihn knutschen dafür, dass er alles richtig macht, bis hin zu der Frage, ob ich Ceviche mag. Ja!!! Ich liebe Ceviche!!! Und morgen werde ich mir einen ganzen Fischschwarm einverleiben!!

Wir kommen bei Jutta’s Wohnung an und der Wächter begrüßt mich mit einem „da sind Sie ja, wir haben schon auf Sie gewartet!“ Na wunderbar – ich habe auch schon seit Tagen auf den Moment gewartet, wo ich mich endlich wieder auf vertrautem Boden bewege…!!

Ich parke mein Gepäck in Jutta’s Wohnung und gehe dann gleich zu WONG - ein bisschen Proviant einkaufen, damit ich morgen früh wenigstens Kaffee und Milch im Haus habe. Jutta ist ja in Wien und ihr Kühlschrank gähnend leer…. Am Ovalo Gutierrez ist alles wie immer – die Obstfrau packt nach einem langen Arbeitstag ihren Wagen zusammen und schickt sich an, nach Hause zu gehen. Der Wächter vor der „Interbank“ grüßt - ebenfalls freundlich wie immer - und gleich um die Ecke, kurz vor dem Eingang zum Supermarkt, sitzt die Frau mit dem Rollstuhl, die hier immer Bonbons verkauft. Ich sage ihr, dass ich ihr was gebe, wenn ich rauskomme… Es hat sich wirklich gar nichts verändert…denke ich….

Im WONG erwarten mich allerdings große Veränderungen!!! Der ganze Supermarkt gleicht einem blinkenden, glitzernden, leuchtenden Weihnachtsmarkt – Lichterketten, Nikoläuse, Schneemänner und alles, was man sich an Weihnachtsdeko nur vorstellen kann. Das Ganze trifft mich so unerwartet wie einen japanischenTouristen, der im Hochsommer in Rothenburg ob der Tauber in Käthe Wohlfahrt’s Weihnachtsdorf tritt… Im Hintergrund klimpert jemand auf dem Flügel – das fand ich schon immer skurril: ein Flügel im Supermarkt, steht da so rum, zwischen Fischtheke und Sahnetortenabteilung, ein junger Typ in weißem Hemd und schwarzer Hose gibt sein Können zum Besten, daneben plätschert ein Springbrunnen gleichgültig vor sich hin, über allem flutet gleißend helles Neonlicht und die Leute schieben ihre Einkaufswagen durch die Gänge… ich bahne mir meinen Weg durch die unglaubliche Menschenmenge, die am Samstag Abend um halb zehn offenbar nichts Besseres zu tun hat als im Supermarkt herumzuflanieren und den Kauf eines Stück Käses zum Ereignis des Jahres zu machen: „Ja, ich bin jetzt hier an der Käsetheke….nein, mi Amor, ich kann den Käse nicht finden. Letzte Woche war er noch hier. Ach Du meine Güte….was machen wir denn nun??? Pizzakäse??? Nein…lass mich mal schauen.. (sie lehnt sich von links über mich und grapscht nach einem Käse)….“nein…gibt es nicht….ach, hier…ja…ich glaube, ich hab was….“ Und so weiter und so fort. Ich mache, dass ich wegkomme. Kaufe ein paar Mangos (Mangozeit!!!), Avocados, Salzstangen, Wein, Salat vom Salatbuffet, Milch, Kaffee…. Und ab zur Kasse. „Tarjeta Wong?“ fragt die Verkäuferin, auch wie immer, und ich schüttle den Kopf. Hab keine Wong-Karte. Will keine Wong-Karte. Brauch auch keine Wong-Karte. Bin ja nur zu Besuch hier. Aber nett, dass sie trotzdem fragt…!! Gott ist das schön, hier zu sein. All das zu kennen. Es zu lieben, in all seiner wundersamen Absurdität. Und mich hier noch immer genauso zu Hause zu fühlen wie in Köln!!! Manche Menschen sind zweisprachig. Ich bin eben zweiwohnortig :-)

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09.06.09

Film zu La Oroya jetzt verfügbar!

Den Film zur Problematik in La Oroya gibt's jetzt auf DVD in 3 Sprachen (englisch, spanisch und deutsch) - zu beziehen bei http://www.kigali-films.com/

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08.02.09

Alejandro

Genau drei Monate ist das nun her, dass wir Alejandro und Rosa mit ihren vier Kindern in La Oroya zurückgelassen haben. Winkend standen sie im November 2008 vor dem Haus und schauten, wie die exotischen Besucher aus Deutschland wieder davonfuhren. Damals waren wir mit sehr gemischten Gefühlen weggefahren von dieser Familie, die wir zehn Tage lang begleitet hatten. Zu tief hatten uns unsere Filmarbeiten, die Interviews, die Einblicke in die triste Realität von La Oroya auch mit Alejandro’s und Rosa’s Geschichte verbunden. Wir fuhren weg mit dem Wissen, dass zwei der vier Kinder hohe Blei- und Arsenwerte im Blut haben. Dass das sehr gefährlich ist. Dass Alejandro seinen Arbeitsplatz bei Doe Run zum Ende des Jahres verlieren würde. Dass Rosa selbst Verdacht auf Krebs hat und nichts davon wusste. Kein Geld für eine vernünftige Diagnose. Kein Geld für eine langwierige Behandlung.

Nun – drei Monate später – sind wir wieder da. Stehen vor der grauen Hütte mit dem eingefallenen Dach, die klapprige Holztür steht halb offen. Wir klopfen. „Señora Rosa…?“ rufen wir. Und noch einmal, diesmal lauter: „Señora Rosa!!“

Rosa kommt aus dem dunklen Raum heraus in den Hof. Sie trägt den gleichen grünen Strickpulli wie vor drei Monaten, die gleiche blaue Wollhose. Auf dem Kopf eine lilafarbene Pudelmütze. Plötzlich fühlen wir uns, als wären wir nie weggewesen, hätten nie Weihnachten in Deutschland gefeiert, den Jahreswechsel erlebt, so viele, ganz andere Erlebnisse gehabt. Wir stehen wieder in dem dreckigen Hof, von den Leinen tropft die nasse Wäsche, die Rosa gegen ein kleines Entgelt für Nachbarn wäscht. Von gegenüber, gleich über die Straße und den Fluss hinweg, dröhnt wie eh und je der metallene Lärm der gigantischen Industrieanlage. Doe Run Peru. Marode steht die Schmelzhütte da, trotzig, störrisch, wie schon so lange. An Modernisierungsmaßnahmen hat die Anlage in den fast hundert Jahren ihrer Existenz immer nur das Allernötigste erfahren. Der riesiege Schornstein bläst beißenden, stechenden Rauch zu uns herüber. Wir wissen von unserer Reportage im November, was für ein giftiges Gemisch das ist, das sich wie eine Glocke über die Stadt legt, in Häuser, Nasen, Augen und Lungen dringt. Die Berge macht es kahl und grau. Die Menschen macht es krank. „Blei im Blut“ – das war der Titel unserer Reportage im November, und Rosa’s Kinder waren unsere Protagonisten.

Rosa hat für den Kalender mit den Erinnerungsfotos, den wir ihr mitgebracht haben, gar keinen Kopf. Zu sehr drängen die aktuellen Ereignisse sie zum Handeln. „Mein Mann ist sehr krank, Señorita. Kommen Sie herein.“ Wir drängen uns in die muffige, dunkle Hütte. Die grauen Holzdielen knarren. Das kaputte Fenster ist mit einem alten Plastiksack zugehängt. Im Zimmer stehen zwei Betten, auf denen sich grobe Wolldecken türmen. Die Luft riecht feucht und abgestanden. Der Boden ist schmutzig. Im Hintergrund dröhnt ein Radio. Alejandro sitzt in sich zusammengesunken auf dem Bett. Noch immer trägt er den weiß-grünen Trainingsanzug der Firma Doe Run – der Firma, die ihn über Jahre als Mitarbeiter im sogenannten Aufforstungsteam beschäftigt hat, zu einem Hungerlohn. Krankenversicherung, Kündigungsschutz und Arbeiterrechte exklusive. Der Firma, die seine Kinder mit ihren Unmengen von giftigen, stinkenden Abgasen krank macht. Der Firma, die ihn im Dezember ohne Angabe von Gründen zusammen mit 65 weiteren Arbeitern auf die Straße gesetzt hat. Der Firma, die für ihn einzige Hoffnung und Abgrund zugleich bedeutet. Nun sitzt er da und zieht langsam den übergroßen Sombrero von seinem Kopf: „Schauen Sie her, Señorita…“ Dort, wo vor drei Monaten noch dichte, dunkle Locken waren, ist jetzt ein kahlrasierter Schädel. Über dem linken Ohr prangt eine große, eckige Narbe. „Sie haben mir den Kopf aufgemacht. Sie haben mir einen Tumor rausoperiert.“ Vor vier Wochen war das. Viel mehr weiß er über seine Krankheit nicht zu sagen. Davon versteht er nichts. Nur dass es weh tut, das versteht er. Und dass es Angst macht. Große Angst.

Jetzt sitzt er wieder zu Hause. Rosa erzählt von den Schulden, die sie machen mussten, um die Operation und die Krankenhauskosten zu bezahlen. In den Gesichtern der beiden steht Sorge geschrieben. Elian und Juan, die beiden jüngsten Kinder, schauen betreten auf den Boden. Alejandro fühlt sich erschlagen. Es geht ihm nicht gut. Seit heute Morgen hat er wieder Schwindelanfälle, brutale Kopfschmerzen. Sein Gesicht ist bleich, seine Kräfte reichen noch nicht mal, um den Kopf zu heben. Wir drücken Rosa 150 Soles in die Hand, alles, was wir gerade in der Geldbörse haben. Sie soll ihren Mann so schnell wie möglich wieder in die Klinik nach Huancayo bringen. Er braucht ärztliche Behandlung. Wenn wir auch sonst nicht viel über seinen Zustand wissen – das ist ganz offensichtlich. „Gracias, Señorita. Gracias…“, sagt Rosa, und streicht dabei ihrer Tochter verlegen über den Kopf.

Wir gehen aus dem Haus. Stehen auf der Straße. Schauen auf die Industrieanlage gegenüber. Doe Run Peru. La Oroya. Metallurgische Hauptstadt Südamerikas. Was für ein Hohn. Ohnmacht überfällt uns. Trauer. Frust. Und Wut. Geballte Wut.

Warum tut niemand was gegen dieses Sterben? Wie kann es sein, dass alle wissen, dass diese Anlage, dieser Ort, einer der zehn verschmutztesten Orte auf diesem Planten, die Menschen krank macht, und nichts passiert? Wie kann es sein, dass dieses Unternehmen gigantische Gewinne einfährt und direkt gegenüber, keine zweihundert Meter entfernt, die Menschen an den Abgasen dieser Firma krepieren? Ich wollte den peruanischen Umweltminister damals, im November, provozieren, als ich ihn fragte, ob die Menschen in La Oroya wirklich von dieser Industrieanlage leben, oder ob sie nicht vielmehr daran sterben. Wie grausam berechtigt diese Frage war, wird mir jetzt, vor dem Haus von Rosa und Alejandro, noch einmal in aller Klarheit und Deutlichkeit bewusst.

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20.06.08

Reise in’s Perú Profundo

Meine Reise führt mich diesmal über Cusco und Abancay nach Antabamba, eine Provinz in den Hochanden Perus. Unsere Partnerorganisation IIDA lädt mich ein, ihr Programm mit dem Titel „Umwelt und Bergbau“ kennenzulernen, das von Misereor unterstützt wird.

Nach Cusco bringt mich das Flugzeug – und auch wenn ich diese Strecke schon X Mal geflogen bin, ist es immer wieder ein einzigartiges Erlebnis: obgleich wir eine Flughöhe von 10.000 m haben, liegen ganz nah unter uns die mächtigen, faltigen Anden, wie Runzeln eines alten Elefanten, trocken, spröde, unglaublich mächtig und stark.

Wir fliegen in einem engen Bogen in den Talkessel hinein, in dem die alte Inka-Hauptstadt Cusco mit ihren schönen roten Ziegeldächern und den vielen klobigen Kirchtürmen liegt. Über dem „Nabel der Welt“ scheint die Andensonne – der Himmel ist blau und das graue, niesliege Wetter Limas ist schon längst vergessen!

Sorroche – höhenkrank…

Im Hotel in Cusco lege ich mich erst mal auf’s Bett. “Langsam, gaaanz langsam angehen lassen“, das ist hier oben die Devise! Ich weiß aus schmerzhafter Erfahrung, wie tückisch die Höhenkrankheit ist. Mal geht’s besser, mal geht’s schlechter… diesmal trifft’s mich richtig hart. Die 3400 Höhenmeter kriechen mir langsam und unaufhaltsam in den Körper. Nach ein paar Stunden drückt der Kopf, als ob er in einen Schraubstock gespannt wäre. Mein Hirn fühlt sich an wie Watte, mir ist flau im Magen und schwindlig im Kopf, ich fühle mich total betrunken, ohne einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben. Das Atmen macht schon auf der dritten Treppenstufe Probleme – und ich muss noch weit hinauf, bis in den dritten Stock. Ächz!!! Das Herz stolpert vor sich hin wie ein verirrter Wanderer. Ich kippe Literweise Coca-Tee in mich hinein, doch auch das hilft nicht wirklich… Mitten in der Nacht werfe ich die erste Kopfschmerztablette ein, nach einer weitgehend schlaflosen Nacht folgt am nächsten Morgen die zweite… es dauert wohl noch ein, zwei Tage, dann bin ich akklimatisiert. Endlich!

Auf in die Provinz!!

Wir fahren von Cusco auf einer wunderschönen Strecke durch die andine Bergwelt. Am Straßenrand wälzen sich schwarze Schweine im Dreck, laufen Frauen mit ihren Wollspindeln zu einem mir unbekannten Ziel, spielen Kinder mit einem alten Lederball Fußball, hacken Männer mit bunten Wollmützen das duftende Eukalyptusholz. Hinter jeder der zahlreichen Kurven lauert ein neuer, atemberaubender Blick auf schneebedeckte Gipfel oder rauschende Wildbäche.

Nach 4 Stunden kommen wir in der Hauptstadt der Region an: Abancay ist ein lebendiges Städtchen, umgeben von mächtigen Bergen, darüber ein strahlend blauer Himmel mit weißen Wattewölkchen… Von hier aus geht’s weiter, immer tiefer hinein in die peruanische Provinz. Nach zwei weiteren Stunden Fahrt im allradbetriebenen Pick-up-Truck verlassen wir die geteerte Straße und holpern auf einer staubigen Piste in ein tiefes Flusstal hinein.
Immer tiefer und tiefer arbeiten wir uns voran und am Ende des Tals, nach fast drei Stunden ruckliger Fahrt, steigen wir schließlich die Hänge der Anden hinauf, Kurve für Kurve, bis wir auf fast viertausend Meter Höhe angekommen sind.

Inzwischen geht die Sonne unter und taucht das ganze Flusstal in ein goldenes Licht. Die Besiedlung in dieser Gegend ist dünn – kleine Dörfer, umgeben von alten, noch aus der Zeit der Inkas stammenden Anbauterrassen. Ein malerisches Bild – doch die Menschen hier leben in Armut. Ihre Häuser sind einfach, die Einnahmen aus der Landwirtschaft reichen gerade für's Nötigste. Die Temperaturen fallen jetzt, im Winter, schon mal auf minus 5 bis minus 10 Grad. Wie die Kinder mit ihren bloßen Füßen diese Kälte überleben, ist mir immer noch ein Rätsel.

Antabamba – Provinzhauptstadt

Antabamba heißt die Hauptstadt der Provinz. Motorisierte Fahrzeuge sind hier noch eine Seltenheit. Dafür gibt es haufenweise Pferde und Esel. Mitten im Dorf, pardon: in der Stadt, die Plaza de Armas, der große Platz, auf dem sich das soziale Leben abspielt. Über ihm prangt stolz und mächtig eine alte, koloniale Kirche – sie bietet Platz für mindestens fünfmal so viele Einwohner wie Antabamba heute hat. Wir quartieren uns in einem „Hostal“ ein – groß ist die Auswahl an Unterkünften hier nicht. Die Kollegen von unserer Partnerorganisation – Julio, Carlos und Denver – überlassen mir großzügig das einzige Zimmer mit „baño privado“, mit meinem eigenen „Bad“. Dieses besteht aus einem schmuddeligen Waschbecken und einer nicht weniger schmuddeligen Toilette, alles diskret hinter einem alten, vergilbten Duschvorhang versteckt. Die Abflüsse dünsten einen modrigen Geruch aus. Aus dem Wasserhahn kommt eiskaltes Wasser. Das Duschen werde ich so weit wie möglich vermeiden, während dieses Aufenthalts! Die Matratze ist durchgelegen und ich bin froh, dass ich inzwischen schon über mehrjährige Provinzerfahrung verfüge: ohne meinen eigenen Schlafsack gehe ich nicht mehr auf Reisen, auch wenn der in Lima zwischenzeitlich Schimmel angesetzt hat. Immer noch besser, als die Last der schweren und staubigen Pferdedecken zu ertragen, die auf dem Bett aufgetürmt sind… auch meine Wärmflasche, mein Schal und meine kleine Taschenlampe leisten mir mal wieder wertvolle Dienste…

Perú Profundo

Das Schönste im „tiefsten Peru“ ist der blaue Himmel, dicht gefolgt von den majestätischen Bergen, die wie die Pranken eines Riesen in der Landschaft liegen, unbeweglich, faltig, runzlig, staubig, trocken und unendlich stark. Man kann sich gut vorstellen, welche Mächte gewirkt haben, als diese gewaltige Bergkette aufgetürmt wurde, wie sich langsam Falte um Falte nach oben geschoben hat. Kleine Menschlein mit abwegigen Ideen und einem unverrückbaren Starrsinn haben sich irgendwann auf diesen Pranken angesiedelt, haben Anbauterrassen in die Berge gescharrt und ringen dem kargen Boden auf Höhen von dreitausend bis viertausend Metern noch heute Mais, Kartoffeln, Quinoa und Kiwicha ab. Am Abend steigt der Mond am Horizont auf, und nach Sonnenuntergang sind die funkelnden und leuchtenden Sterne des „Kreuz des Südens“ zum Greifen nah.

Morgendliches Landleben

Um fünf Uhr morgens erwacht das Dorf mit Geschepper und Geklapper zu neuem Leben. Es herrscht ein eifriges Treiben im Hof. Aus dem Radio dröhnt laute Musik, volkstümlich, ein bißchen schrill, eine nicht wegzudenkende Konstante im andinen Dorfalltag. Der Hahn kräht sich die Seele aus dem Leib, Wasserhähne rauschen im Hof, das Feuer, auf dem die Señora die erste Mahlzeit des Tages kocht, riecht nach Eukalyptus und wärmendem Holz. Es ist knackig kalt im Zimmer, ich stehe auf, wasche mich mit eiskaltem Wasser, ziehe mir die altbewährte Andenzwiebel an – Unterhemd, T-Shirt kurzärmlig, T-Shirt langärmlig, Pullover, Fleecejacke, Anorak, Schal, Mütze. Mit jeder halben Stunde, in der die Sonne höher steigt, werde ich mich sukzessive wieder diverser Schichten entledigen.

Desayuno andino – das Andenfrühstück

Zum Frühstück gibt es Caldo de Gallina - eine deftige Hünhersuppe. Ein großer, dampfender Pott steht vor mir, reichlich Nudeln, Kartoffeln, ein Hühnerbein, ein Ei samt Schale… „Das reicht für eine ganze Familie“, denke ich, und tauche beherzt den Löffel in das köstliche Heiß. Während ich mich nach der Hälfte geschlagen gebe, bestellen meine Kollegen noch einen Nachschlag. Ich weiß nicht, ob Peruaner einen zweiten Magen haben? Einen doppelten Boden vielleicht? Oder wo essen die das alles hin????

Projektbesuche

Julio, Carlos und Denver haben ein Besuchsprogramm für mich vorbereitet. Heute besuchen wir zwei Dorfgemeinschaften, die ersten, Huaquirca, liegt auf einem der gegenüberliegenden Berghänge. Wir fahren also erst mal auf einer waghalsigen Piste die 1500 Meter hinab bis zu dem reißenden Fluss, der der Provinz ihren Namen gibt, und von dort aus dann wieder gut 1300 Höhenmeter hinauf, bis wir in Huaquirca angekommen sind. Auf dem Weg begegnen uns Kühe, Schafe, Pferde und Ziegen. Vereinzelt tragen Frauen ihr Bündel Brennholz auf dem Rücken und wandern in hurtigem Schritt in ihren Sandalen aus Autoreifen die steilen Berge hinauf. Wenn wir sie auf der Ladefläche unseres Pickups mitnehmen, schenken sie uns ein breites, oft zahnloses Lächeln.

Wir wollen mit dem Bürgermeister, dem Führer der bäuerlichen Dorfgemeinschaft und den anderen Dorfautoritäten sprechen. Unsere Partnerorganisation hat in den letzten drei Jahren Ausbildungskurse mit den lokalen Führungspersonen durchgeführt, zu Themen wie „Bergbau und Umwelt“, „Stärkung der Verhandlungskapazität der Dorfgemeinschaften im Umgang mit Bergbauunternehmen“, „Rechte der Dorfgemeinschaften“, „Nachhaltige Ländliche Entwicklung“ und so weiter. Ich will mit den Leuten vor Ort sprechen um rauszufinden, wie diese Kurse ankamen, ob sie den Leuten was gebracht haben, und wie sie die aktuelle Situation in der Provinz sehen. Fast 80% der Provinz Antabamba sind für den Bergbau konzessioniert, über 25 nationale und internationale Unternehmen wollen hier in Zukunft Gold, Silber und Kupfer abbauen. Für die überwiegend von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung ist das ein neues Thema. Es birgt Chancen, aber auch viele Risiken. Unsere Partnerorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, den Menschen bei ihrer Entscheidungsfindung im Umgang mit diesem neuen Thema zu helfen und sie mit Fachwissen, technischer und juristischer Beratung zu begleiten. Es ist ein heißes Eisen, denn wo Bergbau in großem Stil stattfindet, geht dies immer einher mit der Korruption der lokalen Behörden. Bürgermeister und Präsidenten der Dorfgemeinschaften werden bestochen, um den Dorfgemeinschaften die kommunalen Ländereien abzuringen. Die Dorfgemeinschaft spaltet sich alsbald in Minengegner und Minenbefürworter. Es beginnt ein regelrechter Kleinkrieg im Dorf. Mit dem sozialen Frieden ist es meist schnell vorbei. Deshalb führt unsere Partnerorganisation auch Kurse in Konfliktmanagement durch und versucht die Basisorganisationen in ihrem Zusammenhang zu stärken. Kein leichtes Unternehmen. Wer – wie ich - auf dem Dorf aufgewachsen ist, weiß, welche Dynamiken in so einem Dörfchen stecken können….

Wir kommen um kurz vor acht im Dorf an und suchen den Bürgermeister auf. Der ruft über den Lautsprecher der Municipalidad eine Versammlung aus. Langsam tröpfeln die Gemeinderäte, die Bauernführer, Stadtverwalter und landwirtschaftlichen BeraterInnen ein und nehmen in dem von der Morgenkälte noch eisigen Büro des Bürgermeisters Platz. Neben dem Schreibtisch und ein paar Stühlen ziert die peruanische Flagge den Raum und verleiht ihm seinen offiziellen Anstrich. Der Bürgermeister eröffnet umständlich die Sitzung: Muy buenos días, Señor Presidente de la Comunidad Campesina, Señor Regidor, Señor Gobernador; Señora promotora ambiental, Señora Susana de la institución Misereor de Alemania, compañeros de IIDA....Es ist ein langer Sermon, der von jedem weiteren Anwesenden zu Beginn einer Wortmeldung wiederholt werden wird, was der Sitzung einen sehr zeremoniellen und ein bißchen langatmigen Charakter verleiht… die wirklichen Inhalte gehen in dem rituellen Beiwerk leicht unter. Schön ist es trotzdem. Willkommen im Perú Profundo!

Und nochmal Caldo de Gallina

Nach der Versammlung lädt der Bürgermeister zum Frühstück im Dorflokal gleich an der Plaza der Armas und neben der trutzigen Dorfkirche ein. Es ist ein nüchterner Raum, einfach Holzplanken auf dem Boden, an den kalten Wänden ein paar bunte Werbeposter. Ein großer Holztisch mit einer speckigen Wachstischdecke in der Mitte des Raums, Plastikstühle und eine Holdbank drum herum. Es riecht ein bißchen modrig und zieht ungemütlich durch alle Ritzen.

Eine beleibte Señora mit ihren zahlreichen bunten Röcken und einem braunen, runden Hut auf dem Kopf rührt im Nachbarraum in einem großen Blechtopf, der über dem Holzfeuer hängt und serviert schließlich das Mahl.

Es gibt – wie sollte es auch anders sein – Caldo de Gallina!!! Ich schlucke und fluche heimlich in mich hinein, dass ich das doch eigentlich hätte ahnen können! Ist ja nicht mein erster Besuch auf dem Land!!! Hätte ich am frühen Morgen im Kreis des Projektteams noch höflich und ohne großen Gesichtsverlust ablehnen können, so ist mir dieser Ausweg in dieser Situation versagt. Vor mir dampft also erneut eine große Schüssel mit einer ordentlichen Portion Suppe, Nudeln, Kartoffeln, Hühnerbein und Ei – das komplette Programm, zum zweiten Mal an diesem Vormittag!! Der Bürgermeister sitzt am Tischende und schlürft lautstark seine Suppe, Löffel klappern, das Radio dröhnt, dazwischen wird über lokale Politik und die Viehdiebe debattiert, die vor ein paar Tagen ein Dutzend Kühe gestohlen haben.

Freiheit, Sattheit, Zufriedenheit…

Um die Mittagszeit fahren wir zurück – hinab bis zum Fluss, hinauf nach Antabamba. In den nächsten Tagen stehen noch diverse ähnlicher Sitzungen auf dem Programm. Wir fahren X mal hinunter ins Tal und an einem der vielen Berghänge wieder hinauf in ein Dorf. Ich werde nicht müde, die phantastische Landschaft zu bewundern. Ich sitze noch mehrmals vor randvollen Schüsseln mit dampfender Hühnersuppe, Kartoffeln, Nudeln und Ei. Jeden Tag fühle ich mich ein bißchen schmuddeliger. Jeden Tag ein bißchen befreiter - so weit weg von jeglicher Zivilisation, so schön reduziert auf ein paar Tätigkeiten pro Tag. Multi-Tasking Ade! Hier ist das wirkliche Leben.

Forum „Bergbau und Umwelt“

Zum Abschluss dieses Projektbesuchs gibt es eine große Veranstaltung, an der die Autoritäten und Bauern der acht Distrikte der Provinz Antabamba teilnehmen. Einen ganzen Tag lang debattieren mehr die mehr als 120 Teilnehmenden des Forums über Chancen und Risiken des Bergbaus für die Provinz: Wie viele Einnahmen würde der Bergbau generieren? Was könnte man mit dem Geld alles machen? Wie könnte man das Geld am sinnvollsten ausgeben? Wo kann man Bergbau betreiben, ohne die kostbaren Wasserquellgebiete zu zerstören? Wo sind negative Umweltauswirkungen zu erwarten? Was bedeutet der Einfall der großen Unternehmen für den sozialen Zusammenhalt in den Dörfern? Würden die Bauern in den Minen Arbeit finden? Oder würde man womöglich nur ausgebeutet und seiner Lebensgrundlage, der Landwirtschaft, beraubt? Es sind Vertreter sämtlicher Positionen da und die Plädoyers für oder gegen den Bergbau werden in einem lustigen Gemisch aus Spanisch und Quechua vorgetragen. Alle kommen mit praktischen Beispielen, mit ersten konkreten Erfahrungen, mit Sachverstand oder mit bunten Phantasiegeschichten. Es ist ein lebhafter Erfahrungsaustausch, zum Teil wütend, zum Teil euphorisch vorgetragen. Viele Ideen werden angeregt. Viele Fragen aufgeworfen. Man beschließt, das Wichtigste sei es, sich gut auf alle diese Fragen vorzubereiten, sich gut zu organisieren. Und gründet sogleich eine „Verteidigungsfront für die Umwelt und einen Nachhaltigen Bergbau in Antabamba“.

Der Ehrengast im Dorfe…

Zur Feier dieses wichtigen Ereignisses hat die Frau des Bürgermeisters Chicharrón de Alpaca zubereitet, das sind frittierte Alpaca-Stücke. Dazu gibt es für jeden 5 Kartoffeln und einen Salat aus Zwiebeln und Tomaten. Alle sitzen in einer Runde und essen mit den Fingern das leckere Mahl. Ich schiebe Julio heimlich 3 Kartoffeln unter, bevor sie mir wieder zu den Ohren rauskommen. Als Ehrengast des Dorfes bekomme ich einen selbstgewebten Poncho geschenkt, den ich mit Stolz und Dankbarkeit entgegennehme. „Que hable, que hable“ („eine Rede!! Eine Rede!!!“) fordert die versammelte Menge und klatscht zum Ansporn in die Hände! Auch das ist zum Glück keine völlig ungewohnte Situation mehr. Ich weiß, dass das Wort von Außenstehenden großes Gewicht hat und versuche mit meinen Worten zu motivieren und zur gemeinsamen Lösungsfindung zu raten. Ich gratuliere zu der gelungenen Veranstaltung (finanziert von Misereor…), zu dem wichtigen Austausch von Informationen und Erfahrungen, und zur Gründung der neuen Organisation, die den weiteren Prozess begleiten wird. Ich verspreche, dass Misereor auch in den nächsten 3 Jahren über unsere Partnerorganisation Unterstützung anbieten wird und ernte dafür begeisterten Applaus.

Wenn schon mal ein Hilfswerk da ist…

Nach meinem Vortrag werde ich von diversen Dorfautoritäten diskret zur Seite gebeten, und kurz vor meiner Abreise werden noch diverse Finanzierungsanfragen für die Renovierung der Dorfkirche, für die Finanzierung des nicht vorhandenen Wasser- und Abwassersystems und für ein Projekt zur verbesserten Herstellung von Alpaca-Wolle an mich unterbreitet. Ich kann mich mit den in bereits zahlreichen ähnlichen Situationen erprobten Phrasen einigermaßen aus der Affäre ziehen, ohne jemandem vor den Kopf zu stoßen...

Zurück in die „Zivilisation“

Als wir nach 4 Tagen über die holprige Piste zurück nach Abancay fahren, bin ich voller bunter Bilder, faszinierender Eindrücke, spannender Erfahrungen und habe wieder viel, viel dazugelernt!!! Was hab‘ ich für ein Glück, dass das, was andere nicht mal im Urlaub erleben, bei mir auch noch unter dem Titel „Arbeit“ läuft!!!

Die lebendige, quirrlige Stadt Abancay kommt mir vor wie die Mega City New York, mit ihren vielen hupenden Autos, den blinkenden Leuchtreklamen, den bunten Restaurants und den auf den Straßen rumwuselnden Menschen… Im ersten Moment erschlägt mich das alles, und ich denke wehmütig zurück an das stille, provinzielle Antabamba mit seinem langsamen Rhythmus, wo ich mit den Alpacas schlafen gegangen bin und mit den ersten schrillen Radiotönen und dem Aufgang der Sonne aus dem Schlafsack gekrochen bin. Über die heiße Dusche freue ich mich trotzdem. Und auch ein frischer Salat statt heißer Hühnersuppe ist mir heute mal willkommen…

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