Warum wir noch in Lateinamerika tätig sind....
Vor ein paar Tagen schrieb mein Chef mir eine Mail. Warum wir noch in Lateinamerika tätig sind, fragte er. Er brauche Argumente für den Beirat, das maßgebliche Entscheidungsgremium von Misereor, dem Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Die Bischöfe, die dieses Gremium bilden, sind nämlich gar nicht mehr so überzeugt, dass Peru, das Land, in dem ich seit 4 Monaten arbeite, noch unsere Unterstützung braucht. Überhaupt, der ganze lateinamerikanische Kontinent ist doch eigentlich gar nicht so arm. Verglichen mit Afrika oder einigen Ländern in Asien... und außerdem wird doch auch die Armut in Deutschland immer größer – da braucht man schon gute Argumente....
Was für eine faszinierende Landschaft!! Faszinierend in ihrer Nüchternheit, in ihrer Grenzenlosigkeit, in ihrer Weite. Wir kommen an einer Lagune vorbei, strahlend blaues Wasser, ein paar Dörfer am Ufer, vereinzelte Bauernhöfe – ein idyllischer Anblick, und die Ruhe hier oben ist so grenzenlos wie die Landschaft. Wir fahren weiter bis zur Hauptstadt der Provinz – „El Descanso“, ein Ort, an dem früher die Viehhändler auf dem Weg nach Sicuani übernachtet haben, daher der wohlklingende Name „Ort der Rast“.
Hier haben die Leute von „Kausay“ ihr Büro und Domizil. Kausay - das ist eine kleine Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Bauern hier auf den Höhen der Anden ihr Dasein zu erleichtern. Man könnte die Organisation als landwirtschaftlichen Beratungsdienst bezeichnen. Sie beraten die Bauern dabei, kleine Wasserrückhaltebecken zu bauen, damit sie die Monate, in denen kein Regen fällt, besser überstehen. Sie heben mit den Bauern Wasserkanäle zur Bewässerung der Felder aus, zeigen ihnen, wie man aus dem Dung der Kühe, Schafe und Lamas Dünger herstellt, legen Silos an zur Konservierung des Grases für die graslosen Monate, sind Streitschlichter, wenn wieder einmal mehrere Campesinos sich um den Zugang zu einer Wasserquelle streiten.
Es ist eine kleine Organisation – 10 landwirtschaftliche Berater und 3 Beraterinnen, die drei von vier Wochen eines Monats hier oben hausen, mit den Bauernfrauen Gesundheitsaufklärung betreiben, Kurse in der Verarbeitung von Lebensmitteln durchführen, mit Frauen über Familienplanung sprechen und andere nützliche Ratschläge geben. Diese kleine Organisation erhält Geld von Misereor – und deshalb bin ich hier. Weil ich mir direkt vor Ort ein Bild von „unserern“ Projekten machen will, die Arbeit unserer Projektpartner mit eigenen Augen sehen will.
Ich werde herzlich begrüßt von dem Team. Die Köchin macht mir einen Mate, einen Tee aus Coca-Blättern, der gut tut, nicht nur gegen die Höhenkrankheit, sondern auch gegen die beißende Kälte hier oben. Nachdem ich meinen Rucksack abgelegt habe, fahren wir los. Raus, zu den Bauern, der „Zielgruppe“ des Projekts, wie es im Entwicklungsjargon so schön heßt.
Als erstes besuchen wir Angelina, eine Bäuerin, die zusammen mit den Beratern von Kausay ein kleines Wasserrückhaltebecken auf ihrem Grundstück gebaut hat. Hier sammelt sie das Wasser aus einer spärlich vor sich hintröpfelnden Quelle auf und über ein einfaches Rohrleitungssystem und einen Wassersprenger kann sie so ein kleines Feld unterhalb des Reservoirs beregnen. Auf dem Feld baut sie einfach nur Gras an, dunkelgrünes, nahrhaftes Gras für ihre 5 Kühe, die etwa 10 Schafe und ein paar Meerschweinchen. Das Gras wird dann in einem einfachen Erdsilo konserviert – auch das haben ihr die Berater von Kausay gezeigt. So hat sie nun also Futter für die folgenden Monate, August, September und Oktober, wenn das kärgliche Gras, das hier oben wächst, völlig vertrocknet ist und die Tiere nur noch von den Reserven leben können.
Mit Hilfe von „Kausay“ hat Angelina auch ihren Herd in der Küche verbessert – von der einfachen Tonhütte führt nun ein Ofenrohr nach draußen, so dass die Hütte nicht mehr verrußt und verqualmt, wenn sie auf dem einfachen Tonherd ihre Mahlzeiten bereitet. Neben dem Herd kleine Ställe, in denen sie Meerschweinchen züchtet. Meerschweinchen sind eine gute Alternative zu den großen Tieren – sie brauchen nicht viel und ihr Fleisch ist äußerst nährstoffreich. Nur die Kälte vertragen sie nicht, deshalb stehen die Ställe auch hier in der Küche, neben dem Herd.
Angelina hat fünf Kinder, die mit ihr in dem kleinen Gehöft wohnen. Ihr Mann ist seit mehreren Tagen in Sicuani, um dort seine Arbeitskraft zu verkaufen. Dies ist die einzige Möglichkeit, zu etwas Geld zu kommen. Denn mit der Landwirtschaft läßt sich nichts verdienen, die reicht ja kaum zur Selbstversorgung. Und Geld brauchen sie dringend, wollen sie doch unbedingt noch ein weiteres Wasserbecken bauen, damit sie mehr Gras anbauen können, und auch ein paar Kartoffeln, Kräuter und Gemüse zur Aufbesserung der eigenen Mahlzeiten. Das Wasserrückhaltebecken braucht eine Auskleidung aus Plastikfolie, sonst versickert das Wasser zu schnell im Boden. Und die Plastikfolie ist teuer – über 100 Soles, das sind fast 30 Dollar pro Wasserrück-haltebecken. Außerdem brauchen sie Geld für den Schlauch und den zusätzlichen Wassersprenger. Kausay unterstützt sie zwar bei der Umsetzung des Projekts, berät sie technisch und gbit auch einen kleinen finaziellen Zuschuss für die Anschaffung der Gerätschaften. Doch den großen Teil der Investitionen muss Angelina mit ihrer Familie selbst tragen. Das ist ein Grundprinzip von Kausay: keine Schenkungen. Der Eigenbeitrag der Campesinos ist wichtig. Nur so lernen die Bauern, die Investitionen auch wertzuschätzen. Nur so ist gewährleistet, dass sie sich auch für die Wartung verantwortlich fühlen, ihr kleines Bewässerungssystem hüten wie einen Augapfel.
Als nächstes fahren wir in ein Dorf, das in gemeinschaftlicher Anstrengung ein richtig großes Bewässerungssystem auf die Beine gestellt hat. Elf Familien haben zusammen gespart, gemeinschaftlich an der Zisterne gebaut, unter Anleitung von Kausay Hydranten installiert, ein Wasserverteilungssystem eingerichtet. Fünf Wassersprenger können nun eine Fläche von fast 2 Hektar beregnen. Und die Bauern sind stolz auf ihre Leistung. Ich komme genau im richtigen Moment – heute soll das Bewässerungssystem eingeweiht werden, und ich werde gleich zur Patin des Wasserhydranten Nummer drei ernannt, darf eine feierliche Taufe vollziehen – will heißen: eine Flasche Sekt mit dem Hammer über dem Hydranten zertrümmern. Es gibt feierliche Reden und die Bauern stimmen voller Stolz die peruanische Nationalhymne an. Ein ergreifender Moment.
Beim anschließenden Festmahl – es gibt Lammkeule, Kartoffeln und Quinoa, erzählen mir die Bauern, was sie auf dem gewonnenen Land alles anbauen wollen und wie sie hoffen, die bislang noch karge Fläche binnen eines Jahres in ein fruchtbares Paradies zu verwandeln. Alles nur mit ein paar einfachen Wassersprengern, wie sei bei uns in Deutschland jeder Kleingärtner in seinem Schuppen hat....
Als ich 24 Stunden später zurück in Cuzco bin, in meinem ebenfalls unbeheizten, aber dennoch sehr gemütlich anmutenden Hotel, und als ich schließlich nach einer ausgiebigen, heißen Dusche nochmal ins Internetcafe nebenan gehe, um meine Mails zu lesen, finde ich die Mail meines Chefs, mit seiner seltsamen Frage: ob ich ihm nicht Argumente liefern könne, warum wir noch in Lateinamerika tätig sind? Nein, tut mri leid, dazu fällt mir leider gar nichts ein. Da kann ich nur traurig mit dem Kopf schütteln. Was für eine Frage....!!
(geschrieben im Juni 2005)
Labels: armut, Entwicklungszusammenarbeit, Peru