Wandern zwischen den Welten....

26.12.05

2005 - ein Blick zurück....

Weihnachten. Jahresende. Traditionell eine Zeit, um Rückschau zu halten. Um das Jahr nochmal Revue passieren zu lassen, um Bilanz zu ziehen. Gar nicht so einfach, finde ich. 2005 – ein ganzes Jahr.... was für ein Jahr! - passt das wirklich in eine Zusamenfassung, kann ich das irgendwie resümieren? 2005 - Was war da noch alles?

2005 Ein Jahr der Vielfalt. Thematische Vielfalt. Geographische Vielfalt. Kulturelle Vielfalt. Kulinarische Vielfalt. Sprachliche Vielfalt. Gefühlsmäßige Vielfalt.

2005 Ein Jahr des Abschiednehmens – Ankommens – Einfindens – Wohlfühlens – Zu-mir-zurück-Findens.

2005 Ein Jahr der Fragen. Sinnfragen. Rückfragen. Verständnisfragen. Peinliche Fragen. Grundlegende Fragen. Kritische Fragen. Neugierige Fragen. Staunende Fragen. Ungläubige Fragen. Offene Fragen. Unbeantwortete Fragen. Nach-dem-Weg-Fragen.

2005 Ein Jahr der Suche. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was ist mein Platz? Was ist mein Ziel? Welcher Weg ist denn nun eigentlich meiner?

2005 Ein bewegtes Jahr: im Pickup-Truck, Flugzeug, Fahrrad, Bus und Kombi, im Mietwagen und - immer wieder gern genommen - im Taxi! Das Ganze in Deutschland, in Peru, Anden rauf, Anden runter, Regenwald, Küste, Wüste, Hochland, Schneegipfel, tropische Flüsse. Dann: USA, San Fransisco, Arizona, Grand Canyon und zurück nach Peru. Schließlich, am Ende, wieder in Deutschland. Ups! DAS kommt mir sehr vertraut vor!

2005 Ein Jahr der Entdeckungen: neue Lebensrealitäten. Neue Eindrücke. Neue Welten. Neue Denkweisen. Neue Herangehensweisen. Neue Gefühle. Neue Freunde. Neue Kollegen. Neue Ideen. Neue Landschaften. Neue Menschen. Neue Wege. Neue Ausblicke. Neue Leidenschaften. Neue Gewohnheiten. Neue Erkenntnisse.

2005 Ein Jahr der extremen Gegensätze, von Euphorie bis Verzweiflung, von Ruhe bis Chaos, von Nähe bis Ferne, von Heimat bis Heimweh, von Größe bis Winzigkeit, von Faszination bis Erschrecken, von Ja bis Nein

Was bleibt von allen diesen vielen Schlagwörtern? Das Gefühl, unterwegs zu sein, auf der Suchen nach meinem Weg. Das Gefühl auch, weitergehen zu wollen, weitergehen zu müssen, diesen meinen Weg, mal stolpernd und strauchelnd, mal beschwingt und beflügelt. In jedem Fall immer näher Richtung Ziel, wo immer das sein mag.

10.12.05

The sunny side of life...

04.12.05

Taxi Talk

Ich steige in ein Taxi ein „Buenos Días“, grüße ich freundlich.
„Buenos Días“ erwidert der Taxifahrer und fährt los.
Ich verstaue meinen Rucksack unter meinen Beinen (eine Maßnahme, die sich empfiehlt, um zu verhindern, dass an der nächsten Kreuzung jemand die Tasche aus dem Wagen klaut) und mache es mir bequem.
Der Taxifahrer schaut in den Rückspiegel, sucht meinen Blick: „Sie sind keine Peruanerin," konstatiert er.
„Nein“ – stimme ich ihm zu.
Schweigen.
Dann ein erneuter Anlauf: „Aus den USA?“
„Nein, ich bin Deutsche“.
„Aahh! Deutsche!!“ sagt der Taxifahrer bedeutungsvoll, und ich weiß nicht so recht, was ich aus dieser Bemerkung schließen soll.
„Seit wann in Peru?“
„Seit 9 Monaten.“
„Aahh – neun Monate erst. Seit kurzem!“
„Ja“
„Aber Sie sprechen gut spanisch“
„Danke. Es geht so“
„Haben Sie schon in Deutschland spanisch gelernt“
„Ja, in der Schule und an der Uni.“
„Aahh ja, wie gut.“
Pause
Nächster Anlauf: „Gefällt Dir Peru?“ (man bemerke den nahtlosen Übergang zum Du).
„Ja. Ein spannendes Land.“
„Was gefällt Dir am meisten?“
„Ich weiß nicht genau. Die Leute. Die Landschaften. Eine andere Kultur.“
„Und das Essen???“
„Sehr lecker", sage ich artig und grinse heimlich in mich hinein, denn icn weiß schon, was als nächstes kommt: „Cebiche?????“1 fragt der Taxista dann auch prompt, und die fünf Fragezeichen in seiner Stimme deuten an, dass wir jetzt an einem kritischen Punkt der Konversation angekommen sind.
„Ja, mag ich sehr gerne“, antworte ich brav - auch wenn ich von zu viel Cebiche Bauchschmerzen kriege und gekochten Fisch der rohen Variante vorziehe, aber das muss ich dem Taxifahrer ja nicht im Detail auf die Nase binden.
„Gut! Das freut mich!“ atmet der Taxifahrer erleichtert auf.
Damit habe ich den Test offenbar bestanden und die Befragung geht nun in die zweite Runde: „Warst Du schon in Machu Picchu?“
„Ja, vor 11 Jahren. In diesem Jahr noch nicht.“
„Ach, wie schade. Du musst unbedingt gehen, es ist beeindruckend. Ich war aber selbst auch noch nicht da. Die Touristen fahren alle hin. Aus der ganzen Welt. Und nach Cuzco. Kennst Du Cuzco?“
„Ja, ich bin sogar relativ oft in Cuzco, wegen meiner Arbeit.“
„Ach so, Du reist viel durch’s Land? Was machst Du?“
„Ich arbeite für die Katholische Kirche“ sage ich, und mache nun meinerseits eine bedeutungsvolle Pause. Die Katholische Kirche hat nach wie vor ein relativ gutes Standing in der Gesellschaft. Sie gilt als eine der wenigen glaubwürdigen Institutionen hier im Land – wenngleich sie innerlich gespalten ist und es diverse sehr dunkle Kapitel in ihrer peruanischen Geschichte gibt. „Soziale Projekte“ füge ich dann hinzu. „Entwicklungszusammenarbeit.“
„Aahh ja, in Peru gibt es viel Armut.“
„Ja, das stimmt“ Das Berufsthema haben wir damit auch abgearbeitet und die dritte Befragungsrunde bezieht sich dann auf meine private Lebenssituation.
„Bist Du verheiratet? Ledig?“
„Verheiratet“ sage ich, obwohl es nicht stimmt.
„Kinder?“
„Ja, zwei Kinder“ schwindle ich weiter, denn alle meine anfänglichen Versuche, den Taxifahrern beizubiegen, dass ich alleine lebe und keine Kinder habe, endeten damit, dass der Taxifahrer ganz erschüttert war über so ein trauriges Leben und ich sein Weltbild wieder gerade rücken musste, was nicht so leicht ist, wenn man schon mal gesagt hat, dass man ledig und kinderlos ist...
„Das ist gut“, stellt er dann auch zufrieden fest.
„Ja“ sage ich, und belasse es dabei.
„Wie lange bleibst Du noch in Peru?“
„Zwei Jahre“, sage ich.
„Aahh, ja, zwei Jahre. Lange,“ sagt der Taxifahrer, während ich ihm bedeute, dass wir am Ziel angekommen sind und er mich an der nächsten Ecke rauslassen soll.
„Ich wünsch’ Dir viel Glück. Pass gut auf Dich auf, es gibt viele Gauner hier in Lima.“
„Ja, mach’ ich. Pass’ auch auf Dich auf“ gebe ich zurück.
„Hasta luego!“
„Ciao,“ sage ich, lasse die Autotür hinter mir zufallen und gehe schmunzelnd meines Weges.
Wie oft habe ich dieses Gespräch mit fast identischem Wortlaut schon geführt? Hundert Mal? Zweihundert Mal? Eine Taxifahrer-Prüfung gibt es ja nicht in Peru, weshalb auch kaum einer der Taxifahrer die grundregeln des Verkehrs beherrscht und noch weniger Taxifahrer sich dafür zuständig fühlen, die Fahrstrecke zum Ziel zu kennen. Aber manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass es da doch irgendeine heimliche Institution gibt, die Konversationskurse für Taxifahrer anbietet. Wie sonst ist zu erklären, dass so viele Taxigespräche dem immer gleichen Muster folgen????
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[1] Cebiche ist eine peruanische Spezialität aus rohem Fisch, der in eine Marinade aus Essig und Zitronensaft eingelegt wird, gewürzt mit Koriander, Chili und Zwiebeln. Wer Cebiche mag, hat die wichtigste Hürde auf dem Weg zur Integration in die peruanische Gesellschaft überwunden.

03.12.05

„No te preocupes“ – oder: „Don’t worry, be happy!“

Ich frage eine Freundin, ob sie schon die Bustickets für unsere gemeinsame Reise nach Puno gekauft habe, und sie antwortet mir lässig „No te preocupes“. Ich kaufe ein Telefon, der Verkäufer taucht für endlose Zeiten im Lager ab und auf meine schüchterne Frage, ob er denn heute noch mit dem Telefon wiederkomme, wirft mir seine Kollegin ein lässiges „No te preocupes“ entgegen. Wir stehen mal wieder im Stau in Lima, ich frage den Taxifahrer nervös, wie lange wir wohl noch zum Flughafen brauchen, und er antwortet lakonisch „No te preocupes“. Ich frage meine Kollegen, ob sie einen Overheadprojektor für den Workshop besorgt haben, und sie antworten mir eifrig „No te preocupes“. Ich sitze im Bus, die Frau neben mir wirft ihren Plastikmüll zum Fenster raus. Ich sage ihr, dass ich das gar nicht gut finde, dass das die Landschaft verschandelt und dass sie ihren Müll doch bitte in einen Abfalleimer werfen soll, und sie klopft mir freundschaftlich-mütterlich auf die Schultern und sagt „No te preocupes“.

Ja, ein wirklich vielseitig einsetzbarer Satz. Ein richtiges Multitalent, quasi: „No te preocupes“! Im Deutschen gibt es dafür ebenso vielfältige Übersetzungen, von „kein Problem“, „Take it easy“, „mach’ dich mal locker“, über „mach’ Dir keinen Kopf“, „kein Grund zur Sorge“ bis hin zu „das wird schon wieder“ oder „jetzt mach’ aber mal halblang“ deckt dieser Satz ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten ab. Ganz wörtlich übersetzt, heißt es eigentlich „sorge Dich nicht im voraus“. Leicht gesagt – schwer getan. Hier schlägt die interkulturelle Falle voll zu! Während die Peruaner nämlich Spezialisten darin sind, sich weder im voraus noch sonst im nachhinein wirklich den Kopf über all diese ach so wichtigen Fragen zu zerbrechen, bin ich mit meiner guten, deutschen Kultur darauf getrimmt, alles schon Wochen und Monate im voraus zu planen, zu durchdenken, jede mögliche Schwierigkeit vorwegzunehmen und präventive Maßnahmen zu planen.
„No te preocupes“ – wenn Ihr wüßtet, was Ihr mir damit abverlangt!!! Mich im voraus zu sorgen, ist quasi eine meiner Kernkompetenzen! Ich wurde auf diese Stelle gesetzt, weil ich eine Planungs-und somit eine regelrechte Sorgenexpertin bin. Ich habe gelernt, ein Projekt nicht einfach nur so vor sich hinplätschern zu lassen, sondern es gezielt und gekonnt zu managen – ständig den sorgenvollen Blick auf alle geplanten Aktivitäten und Projektziele gerichtet, mögliche Hindernisse kritisch beobachtend, den Cash Flow überwachend und den Kommunikationsfluss steuernd. Ich bin quasi ausgebildete Sorgenvermeiderin und den aufmerksamen Blick auf mögliche Probleme, eventuell kritische Momente und sich anbahnende Hindernisse kann ich mir so wenig verkneifen wie den genervten Blick auf die Uhr, wenn meine Workshop-Teilnehmer mal wieder mit zwei- bis dreistündiger Verspätung einlaufen.
Ich würde mich ja wirklich herzlich gerne der peruanischen Gelassenheit anschließen. Sie macht das Leben definitv einfacher, und ist für dieses Land wahrscheinlich sogar ein unerläßlicher Überlebensmechanismus!

Leider muss ich sagen, dass ich inzwischen gelernt habe, diesem Aufruf zur Sorglosigkeit auf’s Tiefste zu mißtrauen! In 99 % der Fälle ist dieser Satz nämlich geradezu ein Indikator dafür, dass irgendwas nicht stimmt, und dass es durchaus ernsthaften Anlass zur Sorge gbit, Je schneller mir mein Gegenüber auf eine harmlose Anfrage ein „No te preocupes“ entgegenschleudert, um so misstrauischer werde ich inzwischen. Meine peruanische Freundin hatte die Bustickets nämlich nicht rechtzeitig besorgt, und so konnten wir erst am übernächsten Tag losfahren. Das Telefon war nicht mehr auf Lager und der Verkäufer mochte mir das nicht sagen, weshalb er einfach nicht mehr wieder auftauchte. Meine Kollegen hatten den Overheadprojektor vergessen und waren dann im Hintergrund hektisch damit beschäftigt, ein Ersatzgerät aufzutreiben. Waren sie also doch berechtigt, meine sorgenvollen Fragen! Hatte ich mal wieder recht! Blöd nur, dass ich auch die einzige bin, die sich über verbaselte Chancen aufregt! Die Peruaner bleiben sich treu, sie sorgen sich weder vorher noch nachher. „No te peocupes“! Für mich müssten sie wohl auch noch ein „No te post-procupes“ erfinden....

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02.12.05

Skurrile Begegnungen

... die Tage werden wärmer, die Limeños zieht es mehr und mehr nach draußen, die Parks und Strände bevölkern sich, wir ziehen die Sandalen aus der hintersten Ecke im Schrank und freuen uns an dem Duft von Sonnencreme, der so viele gute Gefühle in uns weckt. Endlich Sommer! Ich angle meine Sonnenbrille aus dem Rucksack, schwinge mich auf’s Fahrrad und mache mich auf, Richtung Malecón, um einfach nur das Blau des Himmels, der sich so viele Monate in seinem stets eintönigem Grau gezeigt hatte. Doch auf dem Weg zur Strandpromenade haut’s mich fast aus dem Sattel, als ich in der Mitte des Kreisverkehrs des Ovalo Miraflores einen riesigen, mit Kunstschnee bedeckten Weihnachtsbaum entdecken muss. Welch ein Anblick! Das dunkelgrüne Monstrum mit seinen roten Schleifen und den im Sonnenschein blinkenden Lichtern wirkt auf mich wie ein Objekt aus einer anderen Zeit, ja wie aus einem anderen Leben. „Was tut dieses Ding hier?“ - frage ich mich irritiert und radle schnell weiter. An der nächsten Ecke habe ich den seltsamen Baum schon fast wieder vergessen, als ich an der Fassade eines Kaufhauses einen weißbärtigen, pausbackigen Weihnachtsmann mit Zipfelmütze und warmem roten Mantel rumkraxeln sehe. "Na prima" - denke ich mir "diese Typen fand ich in Deutschland schon den Gipfel der weihnachtlichen Scheußlichkeiten, aber hier in diesem Ambiente wirken sie noch eine ganze Ecke skurriler". Der Kollege hier ist nicht der einzige seiner Art – offenbar haben die amerikanischen Handelsketten ihre Weihnachtsdeko ungeachtet des Standorts ihrer Kaufhäuser pünktlich ausgeliefert und die peruanischen Angestellten befolgen brav die Anweisung zur Anbringung des winterlichen Weihnachtsschmucks. Aus den Schaufenstern leuchten mir also neben putzig-kitschigen Engelchen und farbenfrohen Blinkesternen auch Rentiere mit ihren geschenkbehäuften Schlitten entgegen – und ich frage mich, was „Schlitten“ eigentlich auf Spanisch heißt. Und wie um dem Schauspiel die Krone aufzusetzen, steht da drüben ein großer Schneemann in Gestalt einer aufgeblasenen Gummipuppe und grinst mir mit seiner leuchtenden Mohrrübennase fröhlich entgegen, als wolle er sagen: „Hey - ist doch super, dass ich auch mal einen Platz an der Sonne ergattert habe.“

Gesundheit !!!

Gestern ist der Bruder unseres Hauswächters gestorben. Mit unseren Spenden konnten wir sein Leben leider nicht mehr retten - aber vielleicht tröstet es Euch, dass wir es zuminest versucht haben...
Heute habe ich in der Zeitung folgenden Artikel gelesen: 25.000 PeruanerInnen leiden an Krebs. Mindestens 10.000 können nicht angemessen medizinisch behandelt werden, weil es in den Krankenhäuern der "Provinzen" keine entsprechende medizinisch-technische Ausstattung gibt. In Lima gibt es zwar modernste Hochglanz-Kliniken, die aber nur denen offenstehen, die am Eingang ihre Kreditkarte vorweisen können. Die staatlichen Kliniken Limas - längst nicht so gut, wie die teuren Privatkliniken, aber dennoch sehr viel besser als viele Distriktkrankenhäuser - stehen zwar auch den ärmeren Bevölkerungsschichten offen, trotzdem bleiben sie für viele Kranke unerreichbar, weil diese sich mehrfache Reisen nach Lima einfach nicht leisten können, geschweige denn die hohen Kosten für Behandlung und Medikamente.
Laut dem Zeitungsartikel wird in den meisten Fällen die Krebserkrankung auch erst so spät diagnostiziert, dass jegliche wirksame Behandlung zu spät kommt.

2. Dezember 2005

Hallo Ihr Lieben!

Nachdem Ihr eine Weile nichts von dem Mann im braunen Pullover und seinem Bruder gehört habt, will ich Euch heute mal wieder einen kleinen „Lagebericht“ schicken. Nach meiner Rundmail und Euren Spenden und netten Zeichen der Solidarität hat der Mann im braunen Pullover seinen Bruder und dessen Frau vor 4 Wochen nach Lima geschafft und die beiden bei sich in seiner Einzimmerwohnung einquartiert. Am nächsten Tag sind alle zusammen zur Klinik gefahren, wohin man ihn in der Folge fast täglich zu Untersuchungen einbestellte, eingewiesen aber wurde er nicht (mit der Begründung, es gebe kein freies Bett und 200 Anwärter, die genauso dringend auf einen Krankenhausplatz warten). Der kranke Mann und seine Frau fuhren also täglich zwischen der Wohnung und dem Krankenhaus hin und her. Man kann sich kaum vorstellen, wie ein schwer krebskranker Mann diese täglichen Transporte im Taxi überstanden hat... in der Klinik saß er oft stundenlang und wartete auf den langen Plastikstuhlreien, bis er an die Reihe kam: Röntgenuntersuchungen, diverse Blutabnahmen, Tomographien, Endographien... Immer wurde der Mann abends nach Hause geschickt, obwohl seine Verfassung mit jedem Tag schlechter wurde. Eine Operation wurde von der Klinik offenbar nicht ins Auge gefaßt – über die Gründe herrschte beim Mann im braunen Pullover und seiner Familie die ganze Zeit Unklarheit.
Heute nun haben die Ärzte endlich ihre traurige Diagnose verkündet: sie können dem Bruder vom Mann im braunen Pullover nicht mehr helfen, der Krebs ist schon viel zu weit fortgeschritten, es bleibt ihm nicht mehr lange zu leben. Das einzige, was bleibt, ist ihm mit Hilfe von Medikamenten die Schmerzen zu erleichtern. Morgen wird der Mann mit seiner Frau also in einer zehnstündigen Busfahrt zurück nach Pucallpa fahren, in sein Zuhause, zu seinen Kindern. Ich habe dem Mann im braunen Pullover nochmal Geld gegeben, damit sie das Busticket kaufen können und die Medikamente für die nächsten Tage, vielleicht Wochen. Ich hoffe, dass der Bruder unseres Wächters nicht mehr lange leiden muss. Die Schmerzen müssen schrecklich sein, und der Mann nimmt wohl auch seit Tagen kaum mehr Nahrung zu sich. Dem Mann im braunen Pullover habe ich nun das restliche Geld gegeben, mit einer Karte, in der ich Grüße von Euch allen schreibe. Vielleicht ist es ihm ein Trost, dass in der Ferne so viele Menschen helfen wollen.... Der Mann im braunen Pullover dankt mir immer wortreich und untergeben – war mir sehr unangenehm ist, aber ich gebe seinen Dank gerne an Euch weiter, denn schließlich war und ist diese Unterstützung nur durch die Summe Eurer Spenden möglich!

In diesem Sinne: nochmals ganz, ganz herzlichen Dank Euch und liebe Grüße aus Lima von

Eurer Sanne


1. November 2005

Hallo alle zusammen,

diejenigen unter Euch, die schon ab und zu mal auf mein Weblog geschaut haben, kennen ihn vielleicht schon, den Mann im braunen Pullover, der das Haus bewacht, in dem ich wohne. Ich hatte im Oktober schon mal über ihn geschrieben. Er ist klein und schüchtern und nennt mich immer „Señorita“. Er hält mir die Tür auf und freut sich, wenn ich von einer Reise zurückbin. Dann fragt er immer: „Jetzt bleiben Sie aber eine Weile bei uns, oder, Señorita? Jetzt verlassen Sie uns nicht gleich wieder?“ Manchmal unterhalten wir uns eine Weile – über das Wetter, über meine Reisen, über den grauen Himmel über Lima. Sein Job muss tödlich langweilig sein – 12 Stunden am Tag, 6 Tage pro Woche, sitzt er in dem kleinen Kabäuschen am Eingang, hält Türen auf, hilft mit den Einkaufstüten, sortiert die Post in die Briefkästen – nicht mal den Hof kehren darf er, dafür kommt ein anderer, jüngerer Mann.... Der Mann im braunen Pullover verdient 500 Soles im Monat, das sind ca. 160 Dollar. Meine Wohnung kostet 500 Dollar pro Monat. Ich gebe im Monat locker 160 Dollar für Essen aus. Nicht zu reden von Kino, Kneipe, Sport, meinen vielen Reisen... Der Mann im braunen Pullover stammt aus Mollobamba, in der Selva Central, war aber seit über 40 Jahren nicht mehr dort, weil er das Geld für die Reise nicht hat.

Als ich heute Abend vom Büro nach Hause kam, hat er mich angesprochen. Mit Tränen in den Augen und gesenktem Blick, weil es ihm so peinlich war. Sein Bruder, der in Pucallpa in „sehr bescheidenen Verhältnissen lebt“, wie er mir erzählte, hat Krebs. Ein großer Tumor im Magen – so groß wie eine Faust. Er hat irre Schmerzen. Aber kein Geld für die Operation. In der Klinik in Pucallpa können sie ihn nicht operieren – für so eine komplizierte Sache muss er nach Lima kommen. Die Tochter des Bruders hatte den Mann im braunen Pullover angerufen und um Hilfe gebeten. Um Geld. Doch der Mann im braunen Pullover verdient ja selbst kaum das Nötigste zum Überleben. Und von dem kleinen Gehalt unterstützt er auch noch seine Mutter, die schon über 70 und selbst auch krank ist. Der Mann im braunen Pullover war verzweifelt genug, mich zu fragen, ob ich nicht helfen könnte. Ich arbeite doch für eine kirchliche Institution. Leider ist die Hilfe für sterbenskranke Brüder von Männern in braunen Pullovern in keiner der Misereor-Strategien vorgesehen. Diese Investition ist weder nachhaltig noch verändert sie irgendetwas an den miesen Strukturen, in denen dieses Drama stattfindet. Diese Investition ist extrem assistenzialistisch. Diese Investition hat mit Hilfe zur Selbsthilfe nichts zu tun – es ist allenfalls eine Hilfe zum besseren Sterben. Misereor hat für diese Art von Elend keinen Topf – und wenn, dann wäre er ständig leer. Ich habe dem Mann im braunen Pullover trotzdem versprochen, ihm zu helfen. Als Tochter von Eltern, die vom öffentlichen Gesundheitssystem in Deutschland unglaublich profitiert haben und nach wie vor profitieren, kann ich einfach nicht sagen „das geht mich nichts an“. Ich kann ein paar hundert Dollar dazugeben, dass sein Bruder operiert wird und vielleicht mit etwas weniger Schmerzen stirbt... Was sind schon ein paar hundert Dollar?
Wenn sonst noch jemand bereit ist, ein bißchen Geld mutwillig in den Sand zu setzen, dann lasst es mich wissen und überweist mir das Geld auf mein Konto Nr. 9365210, BLZ 60450050 bei der KSK Ludwigsburg. Eine Spendenbescheinigung kann ich Euch leider nicht ausstellen.
Und auch sonst ist das eine denkbar schlechte Investition, denn der Mann wird wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Ich kann dann nur „Danke“ sagen.
Im Namen des Mannes im braunen Pullover,
Und seines Bruders.

Eure Sanne


 
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